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„Jetzt zeigt sich, wer es ernst meint“: Migranten trotzen dem Trend gegen Diversität

von Cumali Yağmur
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„Jetzt zeigt sich, wer es ernst meint“: Migranten trotzen dem Trend gegen Diversität

                        Von FRankfurter Rundshau F.R 

                  

                                                     Gülsah Wilke möchte die Person sein, die sie selbst gebraucht hätte. © Patrycia Lukas

Gülsah Wilke, Investorin und Netzwerkerin, über Diversität in Unternehmen, kulturelle Hürden und ihre eigene steile Karriere. Ein Interview von Stefanie Nickel

Gülsah Wilke wäre ohne den Einsatz ihrer Mutter wohl auf der Hauptschule gelandet. Heute ist sie eine geschätzte Gründerin und Tech-Investorin. Sie glaubt: Vielfalt macht Unternehmen besser. Ein Gespräch über ungleiche Bildungschancen in Deutschland, die Vorteile von Menschen mit Migrationsgeschichte und die Hoffnung, dass sich echte Diversität trotz US-Präsident Trump durchsetzt.

Frau Wilke, US-Präsident Donald Trump hetzt gegen Vielfalt. Unternehmen wie Meta, Google und Disney streichen ihre Diversitätsprogramme. Hatten Sie auf mehr Rückgrat in den Unternehmen gehofft?

Schon vor Trumps Wahl hatte sich der Diskurs auch in Deutschland spürbar verschoben. Jetzt zeigt sich, wer es ernst meint und für wen Diversität nur ein Marketinginstrument war.

Sie sind Partnerin bei der weltweit aktiven Venture-Capital-Firma DN Capital. Mit Ihrer Initiative „2hearts“ treiben Sie das Thema Diversität im Tech-Bereich voran. Finden Sie überhaupt noch Gehör?

Wer in dieser aufgeheizten Debatte durchdringen will, darf nicht polarisieren. Ich stehe ja wie kaum eine andere in der deutschen Wirtschaft – und besonders im Tech-Sektor – für das Thema Vielfalt. Selbst ich überlege genau, was ich sage. Ich achte darauf, meine Argumente mit Zahlen, Daten und Fakten zu untermauern, um klarzumachen, dass Diversität kein politisches Schlagwort, sondern ein handfester Erfolgsfaktor ist.

Was sind Ihre Argumente?

Menschen mit Migrationsgeschichte wachsen mit verschiedenen kulturellen Identitäten und Sprachen auf, lernen früh, zwischen den Welten zu navigieren. Das schult die Anpassungs- und Kommunikationsfähigkeit und fördert ein flexibles, lösungsorientiertes Denken – ein klarer Vorteil in internationalen Arbeitsumfeldern. Arbeitgeber sollten gezielt nach solchen Talenten suchen. Fast die Hälfte der Fortune-500-Unternehmen in den USA wurde von Migranten oder deren Kindern gegründet. In Deutschland wurden 60 Prozent der Unicorns, also Start-ups mit einer Bewertung ab einer Milliarde Euro, von Gründenden mit Migrationsgeschichte aufgebaut.

Sie leiten das deutsche Büro von DN Capital. Was tun Sie, um das Thema Diversität voranzubringen?

Mir ist es wichtig, nicht nur in Gründende zu investieren, die alle auf dem Radar haben. Ich suche die Besten. Und schaue dafür auch dorthin, wo andere vielleicht nicht hinsehen. Studien zeigen, dass divers besetzte Teams deutlich leistungsfähiger sind.

Und doch haben Menschen mit Migrationsgeschichte schlechtere Chancen auf eine Karriere.

In Deutschland dauert es im Schnitt bis zu sechs Generationen, rund 180 Jahre, um als Mensch aus sozial benachteiligten Schichten das Durchschnittseinkommen zu erreichen. Damit sind wir OECD-Schlusslicht. Sozialer Aufstieg ist hierzulande so schwer wie kaum irgendwo sonst. Das ist fatal, denn unsere Gesellschaft ist längst vielfältig. Fast jedes zweite Kind unter fünf Jahren hat eine Migrationsgeschichte und diese Kinder kommen überdurchschnittlich oft aus sozial benachteiligten Schichten. Gleichzeitig altert Deutschland rasant. 2036 wird jeder vierte Deutsche im Rentenalter sein – das entspricht rund 20 Millionen Menschen. Wir können es uns nicht leisten, diese Menschen nicht mitzudenken.

Ihre Großeltern kamen in den 1970er Jahren als sogenannte Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Wie gelang Ihnen in diesem Umfeld der Aufstieg?

Als ich geboren wurde, lebten wir in einer Einzimmerwohnung. Um mich herum waren nur türkischsprachige Menschen, ich sprach kein Deutsch. Erst in der Grundschule merkte ich, dass ich in einer Blase aufwuchs. Meine Mutter wusste, dass sie mir bei den Hausaufgaben kaum helfen konnte, und suchte Unterstützung. Zweimal pro Woche half mir der Vater einer Freundin nach der Schule beim Deutschlernen. Danach organisierte sie eine pensionierte Lehrerin, die mit mir übte.

„Ohne meine Mutter wäre ich auf der Hauptschule gelandet. Meine Grundschullehrerin sagte einmal vor der ganzen Klasse: Das weiß sogar die Türkin.“ 

Gülsah Wilke

Wie hat Ihre Familie das finanziert?

Das Geld reichte eigentlich nicht. Meine Mutter machte an den Wochenenden Brautfrisuren, um die Nachhilfe zu bezahlen.

Wie wäre Ihr Weg ohne den Einsatz Ihrer Eltern verlaufen?

Ohne meine Mutter wäre ich auf der Hauptschule gelandet. Meine Grundschullehrerin sagte einmal vor der Klasse: „Das weiß sogar die Türkin.“ Trotz guter Noten bekam ich von ihr eine Hauptschulempfehlung. Da griff meine Mutter ein: Sie marschierte mit mir und meiner Schwester in den örtlichen Tennisverein. Sie wusste, dass der Rektor des Gymnasiums dort spielte. Und erzählte ihm von der Empfehlung. Als sie ihm das Zeugnis zeigte, lud er mich zum Probeunterricht ein. So kam ich als eine der ersten Migrantinnen in Düren aufs Gymnasium.

Sie haben dann sogar eine Klasse übersprungen.

Mein Vater war skeptisch, als das Angebot kam. Meine Mutter sah eine Chance. Nachmittags lernte ich den Stoff der nächsten Klasse. Das war hart, weil ich mich in der Schule ja nicht langweilte. Aber ich schaffte es. Eine neue Tür ging auf: Ich wurde zu der Akademie für hochbegabte Jugendliche des Bildungsministeriums eingeladen. Drei Wochen Lernen auf Studiumniveau in der elften Klasse. Ich lernte dort eine meiner bis heute engsten Freundinnen kennen und hörte von der EBS, einer privaten Wirtschaftsuni mit internationalem Fokus, wo viele Unternehmerkinder hingingen. Ich realisierte: Es lohnt sich, hart zu arbeiten.

Fühlten Sie sich an der EBS zugehörig?

Ich war überwältigt, als ich mit meinem Vater an der EBS ankam. Auf dem Campus standen Autos, die ich nur aus dem Fernsehen kannte – Ferraris, Porsches, alles dabei. Die Universität war in einem Schloss. Als ich später zur mündlichen Aufnahmeprüfung eingeladen wurde, trugen alle Anzug oder Kostüm. Ich erschien in einem roten Hemdkleid und fühlte mich ein wenig wie eine Touristin, die sich verlaufen hatte. Das war mir unangenehm.

Ihr Studium finanzierten Sie mit einem Stipendium, danach haben Sie eine steile Karriere hingelegt bei Axel Springer, dem Gesundheits-Start-up Ada und jetzt bei DN Capital. 2020 gründeten Sie mit drei Mitstreitern die Community „2hearts“. Warum?

Ich hatte immer das Gefühl, „anders“ zu sein – in der Schule, später im Job. Dann traf ich Iskender Dirik, damals bei Microsoft. Wir waren beeindruckt voneinander, weil wir das erste Mal beruflich jemandem begegneten, der uns wirklich ähnelte. Wir dachten: Lass uns daraus etwas entwickeln, ein Netzwerk, das zeigt, wie viele Menschen mit zwei Herzen es gibt.

Zur Person

Gülsah Wilke (38) studierte an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Oestrich-Winkel. Nach Stationen bei McKinsey, Axel Springer und Ada Health ist sie heute Partnerin bei DN Capital. 2021 gründete sie die Community „2hearts“, die Talente mit Migrationsgeschichte fördert und vernetzt.

Deutschland landete im Expat Insider Ranking 2024 auf Platz 50 von 53 Gastländern. Wie kann das sein?

Als meine Großeltern nach Deutschland kamen, sah man in ihnen Arbeitskräfte – und vergaß, dass es Menschen waren: mit Familien, Gefühlen, Sorgen und Hoffnungen. Mein Großvater stand bis zu zwölf Stunden täglich am Fließband – und trotzdem war klar: Er war nicht als aktiver Teil der Gesellschaft gedacht. Er war zum Arbeiten da. Diese Haltung ist noch immer verbreitet. Wenn wir Menschen gewinnen wollen, müssen wir ihnen mehr bieten als nur einen Arbeitsplatz. Wir müssen sie willkommen heißen, ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit geben. Wir tun oft so, als sei Integration ein Gefallen. Kein Wunder, dass dann viele lieber woanders hingehen.

Das wollen Sie ein Stück weit verhindern – wie machen Sie das?

Ich möchte die Person sein, die ich selbst gebraucht hätte – jemand, der hilft, kulturelle Hürden zu überwinden, und Türen öffnet. Heute zählt unsere „2hearts“-Community rund 4000 Mitglieder aus 150 Ländern und mehr als 200 Mentor:innen. Wir unterstützen junge Talente mit Migrationsgeschichte in der europäischen Tech-Branche – mit Mentoring und Netzwerk. Kostenlos, aber wirkungsvoll. Dabei geht es nicht nur um Karriere, sondern auch um Identität. Zwei Herzen, zwei Perspektiven, zwei Welten – das ist keine Last, sondern eine Stärke. Ich sage oft: Warum sprechen wir von „Migrationshintergrund“? Vielleicht ist es doch eher ein Vordergrund, den man mit Stolz zeigen kann.

Zurück zu US-Präsident Donald Trump: Wie wird es weitergehen mit der Diversität in Unternehmen?

Was mich bei Diversitätsdebatten immer gestört hat, ist der oberflächliche Ansatz – ein paar „diverse Gesichter“ auf einem Foto und das war’s dann. Aber echte Vielfalt bedeutet zu verstehen, warum man unterschiedliche Perspektiven wirklich braucht. Diversität gehört nicht ins Marketing, sondern in die Strategie, HR und den Finanzbereich. Als ich zuletzt im Silicon Valley war, sagte ein Freund, der bei einem großen Tech-Unternehmen arbeitet: „Wenn die Regierung bunte Flaggen verbietet, hängen wir sie ab – aber im Hintergrund machen wir weiter. Wir stellen die besten Talente ein.“ Das macht mir Hoffnung

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