Artikel von Kerstin Schilling/ F.R.
Wer ständig als Problemfall dargestellt wird, kann nicht das Gefühl entwickeln, Teil der Gesellschaft zu sein – ein Gastbeitrag von dem Soziologen und islamischem Theologen Kadir Boyaci.
Es ist eine kaum ausgesprochene Wahrheit, die sich wie ein Schleier über die deutsche Gesellschaft legt: Das Gefühl der Zugehörigkeit bleibt für viele Menschen mit Migrationsgeschichte bis heute ein prekärer Zustand. Sie sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, hier geboren, sozialisiert, ein integraler Bestandteil des gesellschaftlichen Mosaiks – und doch spüren sie immer wieder die unsichtbaren Mauern der Ausgrenzung.
Diese Barrieren sind nicht in Gesetzen kodifiziert, sondern manifestieren sich in den Alltagsbegegnungen: in einem skeptischen Blick, einem beiläufigen Kommentar oder in der unausgesprochenen Annahme, dass eine „andere“ Herkunft eine ständige Erklärungspflicht nach sich zieht.
Zur Reihe
Gesellschaften leben vom Zusammenhalt. Doch viele Menschen beklagen Ver㈠rohung, Spaltung und Ungleichheit. Daher fragt die FR: Was schafft Zusammenhalt? Im doppelten Sinn: Wie leben Menschen vertrauensvoll zusammen?
Und was erwächst daraus?
Zusammenhalt meint
dabei nicht Einheitlichkeit,
sondern ein vielfältiges
Mit- und Nebeneinander.
In der Reihe „Vertrauensfragen“ widmen sich Fachleute aus Theorie und Praxis drängenden Streitthemen. Sind die Sorgen berechtigt, oder die Zustände weniger schlimm als gedacht? FR
Die Ursachen für dieses Gefühl der Entfremdung sind vielschichtig und tief verwurzelt. Diskriminierungserfahrungen sind für viele eine Konstante: Sie prägen die Suche nach einer Wohnung, den Zugang zum Arbeitsmarkt oder die Laufbahn in der Schule. Wer mit einem „fremd klingenden“ Namen oder einem nicht-europäischen Äußeren auftritt, wird oft mit Vorurteilen konfrontiert, die nichts mit der eigenen Leistung zu tun haben.
Gleichzeitig eskalieren der spürbare Rechtsruck und die Rhetorik einer verschärften Asylpolitik die politische Debatte. Migration wird hier fast ausschließlich unter dem Vorzeichen von Krise und Herausforderung verhandelt. Wer ständig als Problemfall oder „Integrationsgegenstand“ dargestellt wird, kann unmöglich das Gefühl entwickeln, selbstverständlicher Teil der Gesellschaft zu sein. Dieses kollektive Stigma untergräbt die Identität und hinterlässt eine gefährliche Leerstelle.
„Wer ständig als Problemfall dargestellt wird, kann nicht das Gefühl entwickeln, Teil der Gesellschaft zu sein.“
Kadir Boyaci
Dieses Vakuum an Anerkennung bleibt nicht ungenutzt. Die nigerianische Dichterin Ijeoma Umebinyuo hat das Gefühl dieser doppelten Entfremdung in ihrem Gedicht „Diaspora Blues“ auf den Punkt gebracht: „too foreign for home. too foreign for here. never enough for both.“ (Etwa: „Zu fremd für die Heimat. Zu fremd für hier. Nie genug für beides.“)
Diese Leerstelle bleibt nicht ungenutzt. Sie ist der Nährboden, auf dem autoritäre Regierungen aus dem Ausland gezielt agieren. Sie füllen das Vakuum, das die deutsche Mehrheitsgesellschaft geschaffen hat, mit einem Angebot, das hierzulande oft fehlt: einem Gefühl von Zugehörigkeit, kollektivem Stolz und einer klaren Identität. Regime in der Türkei, in Russland oder in arabischen Staaten sprechen die Gemeinschaften ihrer Herkunftsländer in Deutschland direkt an. Sie inszenieren sich als „Schutzmächte“, als die einzige Stimme, die die Sorgen der Diaspora ernst nimmt und für ihre Interessen eintritt. Sie nutzen damit nicht nur eine emotionale, sondern auch eine politische Schwachstelle.
Wie der Verfassungsschutz in seinen Berichten immer wieder warnt, nutzen ausländische Nachrichtendienste diese Lücken gezielt aus, um Oppositionelle zu überwachen und die innere Spaltung der Communities voranzutreiben. Die Loyalität der Menschen wird so nicht mehr durch demokratische Werte und Verfassungsprinzipien gestärkt, sondern über ethnische, kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit definiert. Menschen, die hier ein Zuhause suchen und finden sollten, geraten so zwischen die Fronten: Sie werden in Deutschland misstrauisch beäugt, während sie von autoritären Mächten instrumentalisiert werden. Das ist ein gefährliches Spiel. Es schädigt nicht nur die Betroffenen, sondern schwächt auch die Demokratie insgesamt.
Die Lösung ist so einfach wie komplex: Es geht um Anerkennung. Wer Menschen mit Migrationsgeschichte nicht nur passiv „dabei haben“, sondern sie als aktive Gestalter dieser Gesellschaft anerkennen will, muss konsequent auf eine Politik der Teilhabe setzen – in Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, in der Politik und den Medien. Es braucht eine stärkere Repräsentation in allen gesellschaftlichen Bereichen, aber auch ein konsequentes Eintreten für Empathie im Alltag. Denn Zugehörigkeit wird nicht durch einen Pass oder ein Gesetz geschaffen, sondern durch Begegnung und die Erfahrung, gesehen und respektiert zu werden.
Wenn Deutschland diese Leerstelle nicht endlich füllt, werden andere sie besetzen – autoritäre Regierungen, die ihre eigenen, undemokratischen Interessen verfolgen. Die Frage, wie sich die Deutschen mit Migrationsgeschichte fühlen, ist daher mehr als eine soziale Beobachtung. Sie ist der Lackmustest für das demokratische Selbstverständnis dieses Landes: ob es wirklich ein gemeinsames Zuhause für all seine Bürgerinnen und Bürger sein will.
Kadir Boyaci ist Soziologe, islamischer Theologe und Geschäftsführer des Hizmet-nahen Forums für Interkulturellen Dialog e.V. „Hizmet“ ist die Selbstbezeichnung des Netzwerks der in der Türkei wurzelnden Gülen-Bewegung .