Artikel von Lucia Schulten
Der Anstieg von Asylsuchenden in den Jahren 2015/2016 betraf die ganze EU. Wie blicken die Politik und die Menschen im Rest Europas auf die Asyl- und Migrationsdebatte der letzten zehn Jahre?
Afghanischer Flüchtling bedankt sich bei Deutschland im September 2015 © Martin Meissner/AP Images/picture alliance
Als die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel vor zehn Jahren ihren berühmten, für manche berüchtigten, Satz „Wir schaffen das!“ sagte, hatte das nicht nur Folgen für Deutschland, sondern auch für Europa.
Diesem Satz folgte Anfang September 2015 Merkels Entscheidung, dass die Polizei Geflüchtete nicht mehr an den Grenzen aufhalten solle. Folglich stellten in den Jahren 2015 bis 2016 über eine Millionen Menschen einen Asylantrag in Deutschland.
In der gesamten EU stieg die Zahl der Asylbewerberinnen und Asylbewerber damals sprunghaft an. Im Jahr 2015 verzeichnete die EU-Statistikbehörde Eurostat über 1,2 Millionen Asylanträge, im Jahr 2016 über 1,5 Millionen. In den Folgejahren blieb die Zahl der Anträge, mit Ausnahme von 2020, über dem Niveau der Jahre vor 2015. Nach einem erneuten Anstieg auf über eine Million Erstanträge 2023, sinken derzeit die Zahlen. Lange Zeit war Deutschland das Hauptzielland von Asylbewerbern in der EU. 2025 wurde es laut
Diese Entwicklungen gehen nicht spurlos an den Europäern vorbei. Bei den letzten EU-Parlamentswahlen 2024 waren, laut Eurostat, 24 Prozent der Befragten der Meinung, dass Migration ein Thema ist, dass vorrangig diskutiert werden sollte.
Auch bei nationalen Wahlen spielte das Thema eine herausragende Rolle, insbesondere in den Mitgliedstaaten, in denen in den letzten Jahren eine rechtspopulistische Partei den Wahlsieg eingefahren hat, wie etwa in Österreich oder den Niederlanden.
Anouk Pronk vom niederländischen Clingendael-Institut sagt gegenüber der DW, dass es im letzten niederländischen Wahlkampf im November 2023 eine „obsessive Fokussierung“ auf das Thema gegeben habe.
Damals sei es so dargestellt worden, als sei die Migration der Grund für die Probleme im Land, wie etwa für die Wohnungskrise, überlastete Sozialsysteme oder Probleme im Schul- und Gesundheitswesen. Derzeit beobachtet Pronk, dass man sich davon etwas löse und versuche, diese Probleme anzugehen und nicht die Migration zum Sündenbock für alles zu machen.
Nicht nur in
Zwischen öffentlicher Meinung und beigemessener Bedeutung gibt es einen Unterschied, sagt Lenka Drazanova gegenüber der DW. Und die Bedeutung des Themas Migration habe sich in den letzten zehn Jahren durch die hohe Präsenz in den Medien und der Politik verstärkt, sagt die Politologin, die am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz forscht.
An der Grundhaltung, wer in der Gesellschaft für oder gegen Migration ist, habe sich allerdings nichts geändert. Was sich seit 2015 geändert habe sei, dass die Menschen, die gegen Migration seien, ihre Ablehnung stärker ausdrückten. Als Grund für diese einwanderungsfeindliche Haltung, benennt Drazanova Bedrohungsgefühle – wie etwa die Angst vor dem Unbekanntem oder vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.
Die hohe Zahl der in Deutschland ankommenden Asylsuchenden habe bei einigen Europäern – insbesondere in Mittel- und Osteuropa – solche Gefühle ausgelöst. Dabei käme es weniger auf die tatsächliche Zahl an, sondern mehr auf die Diskussion über Migration an sich.
Der Diskurs über Migration in Europa hat sich verändert
Außerdem hätten sich die sozialen Normen und politische Kultur, wie über Migration und Geflüchtete gesprochen wird, seit 2015/2016 verändert, so die Politikwissenschaftlerin Drazanova. Dies stehe auch im Zusammenhang mit der Normalisierung rechtsextremer Ansichten.
Auch Politologin Pronk sieht eine Veränderung in der Diskussion. Zur Zeit von Angela Merkels „Wir schaffen das!“ sei es mehr um eine „Pflicht zu helfen“ gegangen. Heute werde die Debatte um Migration mehr als ein Sicherheitsrisiko dargestellt.
Dies könne man beispielsweise an dem neuen EU-Pakt für Asyl und Migration sehen. Dort gehe es vor allem darum, wie man die Grenzen schützen könne und Menschen, die kein Bleiberecht in der EU hätten, schneller wieder abschieben könne. Den Grund für diese Entwicklung sieht die Politologin in der großen Belastung der Asylsysteme der EU-Mitgliedstaaten.
EU verschärft Asylregeln – und bekommt Druck von Mitgliedstaaten
In dem Asyl- und Migrationspakt, der im Sommer 2026 in Kraft treten soll, sind sogenannte Grenzverfahren vorgesehen, für diejenigen Geflüchteten, die aus Ländern mit einer geringen Anerkennungsquote kommen.
Auch arbeitet die EU derzeit an einer neuen Rückführungsverordnung. Bislang war es, laut der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl so, dass Migranten nur in ein Land abgeschoben werden konnten, zu dem sie eine Verbindunghaben oder wenn sie zustimmen. Dieses Kriterium solle fallen, wenn es nach der EU-Kommission geht. Dies gilt als Voraussetzung, um Menschen gegen ihren Willen in einen Staat, mit dem beispielsweise ein entsprechendes Abkommen besteht, abzuschieben. Auch sollen „Rückkehrzentren“ geschaffen werden. Dabei handelt es sich um eines der Modelle, das in der EU seit einiger Zeit unter dem Stichwort „innovative Lösungen“ diskutiert wird.
Aus einigen EU-Mitgliedstaaten wird Druck auf die EU ausgeübt, die Asylregeln weiter zu verschärfen. So trafen sich beim letzten EU-Gipfel im Juni 21 der 27 Mitgliedstaaten um strengere Vorschriften für die gemeinsame Asylpolitik zu erarbeiten. Der Einladung aus Dänemark, den Niederlanden und Italien folgte erstmals auch der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz.
Politik ist nicht gleich öffentliche Meinung
In einem sind sich die beiden Expertinnen einig: Von der politischen Debatte und der Gesetzgebung lässt sich nicht unmittelbar auf die öffentliche Meinung über Migration in Europa schließen.
Die Debatte innerhalb der Gesellschaft sei nuancierter, sagt Pronk. Dies hätte man zum Beispiel bei der grundsätzlichen Hilfsbereitschaft gegenüber den ukrainischen Geflüchteten innerhalb der EU gesehen.
Auch Drazanova weist im Gespräch mit der DW daraufhin, dass die öffentliche Meinung gegenüber Migration sehr komplex sei. So kann es etwa sein, dass ein und dieselbe Person positiv gegenüber Migranten eingestellt sei, die bereits im Land seien, eine offene Einwanderungspolitik jedoch ablehne. Grundsätzlich zeige sich in Studien aber, dass sich die öffentliche Meinung in Europa gegenüber Migranten in den letzten Jahren etwas gebessert habe.
Autor: Lucia Schulten