Interview mit der jungen türkeistämmigen Migrantin Aysu
Cumali Yağmur
Dieses Interview ist ein Gespräch von Cumali Yağmur mit Aysun Okan, die als in Deutschland geborene und aufgewachsene Migrantin von ihren Erfahrungen erzählt. Aysun, die durch ihre Ansichten zu Themen wie Bildung, Kultur und gesellschaftliche Integration auffällt, teilt offen die Probleme, mit denen Migranten in Deutschland konfrontiert sind, sowie ihre Lösungsvorschläge.
Cumali Yağmur: Aysun, du bist in Deutschland geboren. Konntest du dich in die Gesellschaft integrieren?
Aysun Okan: Das Wort „Integration“ geht mir auf die Nerven. Ich bin in Deutschland geboren, ich war hier im Kindergarten. Im Kindergarten gab es nicht nur deutsche Kinder; wir waren Kinder aus verschiedenen Nationen zusammen. Auch unter den Erziehern gab es welche mit Migrationshintergrund. Die deutschen Kinder waren in der Minderheit; das war sehr gut, und wir Migrantenkinder hatten alle zusammen eine sehr schöne Zeit.
Cumali Yağmur: Nach dem Kindergarten hast du mit der Schule angefangen. Wie war es dort?
Aysun Okan: Schon während der Schulzeit spürt man, dass man fremd ist. Sie versuchen, die deutsche Kultur und das Bildungssystem von oben herab aufzuzwingen. In der Klasse gab es Migrantenkinder aus verschiedenen Nationen. Unsere gemeinsame Sprache war Deutsch. Später habe ich auch andere Sprachen gelernt und mich mit Freunden in diesen Sprachen unterhalten. Das deutsche Bildungssystem funktioniert jedoch immer noch wie ein Ein-Nationen-System und wird den Bedürfnissen von Kindern mit Migrationshintergrund nicht gerecht. Anstelle von Herkunftssprachen werden europäische Sprachen als Wahlfächer angeboten. Man versucht weiterhin, europäische Sprachen und Kulturen in Deutschland als überlegen darzustellen. Obwohl Deutschland ein Einwanderungsland ist, setzt die deutsche Kultur ihre Hegemonie fort.
Cumali Yağmur: Wie war deine Zeit auf dem Gymnasium?
Aysun Okan: Auch auf dem Gymnasium war ich mit anderen Kindern mit Migrationshintergrund zusammen. Das deutsche Bildungssystem, das vor der Einwanderung nach dem Verständnis einer einzigen Nation konzipiert wurde, wird auch heute noch nicht den Bedürfnissen einer multinationalen Gesellschaft gerecht. Dieses Bildungssystem muss dringend auf der Grundlage von Mehrsprachigkeit und Multikulturalität reformiert werden. Während meiner Gymnasialzeit waren Kinder mit Migrationshintergrund in der Unterzahl. Aber untereinander haben wir uns sehr gut verstanden und eine starke Solidaritätskultur entwickelt. Auf dem Gymnasium versteht man einige Dinge besser: Deutschland hinkt anderen europäischen Ländern hinterher; es hat eine konservative und rückständige kulturelle Struktur. Deshalb glaube ich, dass Deutschland noch lange eine nationalistische, rassistische und fremdenfeindliche Haltung gegenüber Migranten zeigen wird.
Cumali Yağmur: Wie waren deine Studienjahre?
Aysun Okan: Als ich anfing zu studieren, war auch dort die Zahl der multinationalen Studierenden gering. Während des Studiums entwickelt sich die eigene Weltanschauung weiter; man bewertet jedes Thema bewusst. Man versteht besser, was es bedeutet, fremd zu sein und von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden. Man spürt Rassismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit bis ins Mark. Es ist falsch, diese Dinge als Teil des Alltags zu betrachten; man muss dagegen ankämpfen. Diesen Kampf führt man, auch wenn man es nicht will, wie eine Pflicht weiter. Man muss über Methoden des Kampfes nachdenken und verhindern, dass sich diese negativen Gedanken in der Gesellschaft ausbreiten.
Cumali Yağmur: Konntest du dich an die deutsche Kultur anpassen?
Aysun Okan: In Deutschland gibt es nicht nur die deutsche Kultur. Migranten aus allen Nationen leben friedlich mit ihren eigenen Kulturen zusammen. Jede Kultur hat sowohl positive als auch negative Aspekte. Man sollte die positiven übernehmen und diejenigen annehmen, die heute noch gültig sind, während man die negativen ablehnen sollte. Deutschland versucht seit Jahren, der migrantischen Minderheit seine dominante Kultur aufzuzwingen, aber die Migranten leisten Widerstand. Auch wenn Deutschland es nicht versteht, der Widerstand geht weiter.
Cumali Yağmur: Welcher Nationalkultur fühlst du dich näher?
Aysun Okan: Ich fühle mich keiner Nationalkultur nahe. Ich spreche Deutsch, Türkisch, Englisch, Französisch und ein wenig Spanisch. Man sollte die positiven Seiten jeder Kultur übernehmen und gegen die negativen ankämpfen. Ich möchte weder nach der türkischen noch nach der deutschen Kultur beurteilt werden. Aus den positiven Aspekten jeder Kultur kann eine weltweit gültige kulturelle Synthese entstehen. Kultur ist nicht das Eigentum einer Nation; sie ist in ständigem Wandel. Durch interkulturellen Dialog muss ein neues Kulturverständnis erreicht werden. Dieser Dialog darf sich nicht nur auf die deutsche Kultur beschränken; auch die Kulturen aller Migranten müssen darin Platz finden. In unserer Zeit leben Migranten aus allen Nationen in Europa; daher ist es unangebracht, nur von der deutschen Kultur und leeren Phrasen wie „sich integrieren“ zu sprechen. Solche Aussagen haben auch keine Stimmigkeit.
Cumali Yağmur: Isst du deutsches Essen?
Aysun Okan: Ich bin Vegetarierin, ich gehe nicht in deutsche Restaurants. In Deutschland gibt es Restaurants vieler verschiedener Nationen, dorthin gehe ich und esse vegetarische Gerichte. Deutsches Essen interessiert mich nicht, und die deutsche Küche ist auch nicht besonders entwickelt. Nur beim Brot kann man sagen, dass sie fortgeschritten ist. Da Deutschland multinational ist, kann man hier die Gerichte jeder Kultur finden.
Cumali Yağmur: Du lebst in der deutschen Gesellschaft. Interessieren dich die deutsche Kultur und Tradition überhaupt nicht?
Aysun Okan: In Deutschland leben nicht nur Deutsche. Hier gibt es die Werte vieler verschiedener Kulturen. Die Tatsache, dass Deutschland ein multinationales Einwanderungsland ist, akzeptiert jeder. Dank dieser multinationalen Struktur haben wir die Chance, verschiedene Kulturen kennenzulernen. In dieser Hinsicht finde ich Deutschland gut.
Cumali Yağmur: Willst du damit sagen: Der interkulturelle Dialog sollte nicht nur mit der deutschen Kultur, sondern auch mit den Kulturen anderer Nationen stattfinden?
Aysun Okan: Ja, genau das betone ich. Bisher wurde der interkulturelle Dialog nur auf die deutsche Kultur beschränkt. Doch jetzt sollte ein Dialog mit jeder in Deutschland lebenden Kultur geführt werden. In Deutschland haben die Migranten aufgrund der individualistischen Haltung der Deutschen eine Solidaritätskultur untereinander entwickelt. Während London und Paris einen internationalen Charakter haben, ist Berlin immer noch eine deutsche Stadt. Die Deutschen sollten sich London und Paris zum Vorbild nehmen. Mit ihrer Solidaritätskultur bauen die Migranten die Vorurteile gegenüber jeder Kultur ab. Die deutsche kulturelle Hegemonie wird von nun an keine Wirkung mehr haben. Die Deutschen müssen ihre Weltanschauung erneuern und ihre Vorurteile gegenüber den anderen im Land lebenden Kulturen abbauen. Andernfalls, auch wenn sie denken, dass sie die Migranten in ihre Gesellschaft integrieren werden, wird dies niemals geschehen.
Cumali Yağmur: Siehst du die Integration als Problem der Deutschen?
Aysun Okan: Ganz genau. Weil die Deutschen nicht offen für den Dialog mit anderen Kulturen sind, grenzen sie sich selbst aus. Und dann sagen sie: „Integriert euch in unsere Kultur“. Da dies eine individualistische Haltung ist, werden sie ihre Ziele nicht erreichen und können noch lange warten.
Cumali Yağmur: Dass du diese Worte als jemand sagst, der hier geboren wurde und seine gesamte Ausbildung hier absolviert hat, ist sowohl interessant als auch sehr bedeutungsvoll.