Hinter dem Slogan „Nationale Einheit“: Klasse, Staat und das Projekt „Terrorfreie Türkei“

von Can Taylan Tapar
terrorfreie Türkei

Die politische Atmosphäre in der Türkei wird einmal mehr von einem der fundamentalsten Widersprüche des Staates geprägt: der „Terrorfrage“. Ein neues Projekt mit dem Namen „Eine Türkei ohne Terror“ und die in diesem Zuge im Parlament eingerichtete „Kommission für Nationale Solidarität, Brüderlichkeit und Demokratie“ werden von der Regierung als historischer Schritt zur Lösung der chronischen Probleme des Landes präsentiert. Die offizielle Rhetorik spricht von einem strategischen Zug, der auf dem Weg zu den Zielen des „Jahrhunderts der Türkei“ den gesellschaftlichen Frieden und die nationale Einheit festigen soll. Um jedoch das wahre Wesen dieses Projekts zu verstehen, ist es unerlässlich, die hinter dieser glänzenden Rhetorik liegenden Klassendynamiken, die ideologischen Funktionen des Staatsapparates und das durch historische Erfahrungen gewachsene Misstrauen einer marxistischen Kritik zu unterziehen.

In diesem Artikel werde ich diese Initiative im Lichte der Grenzen bürgerlicher Demokratie und der Natur von Sekuritisierungspolitik analysieren. Ich werde darzulegen versuchen, warum das Projekt Gefahr läuft, weniger ein Versprechen für echten Frieden und Demokratisierung zu sein, sondern vielmehr zu einem Instrument zu werden, das die Hegemonie des aktuellen Machtblocks reproduziert und gesellschaftliche Widersprüche verschleiert.

Die glänzende Fassade des offiziellen Narrativs und die autoritäre Realität

Die Art und Weise, wie das Projekt der Öffentlichkeit präsentiert wird, bedient sich des gesamten Instrumentariums der herrschenden Ideologie: Abstrakte und emotional aufgeladene Begriffe wie „nationale Einheit“, „Brüderlichkeit“ und „gesellschaftliche Integration“ bilden das Fundament seiner Legitimität. In den Erklärungen des Kommunikationsdirektorats der Präsidentschaft wird mit Formulierungen wie „eine Verwässerung des Prozesses wird von der Nation nicht verziehen“ der Boden dafür bereitet, kritische Stimmen potenziell als Gegner des „nationalen Willens“ zu positionieren. Dass die Arbeitsbereiche der Kommission auch Themen wie „Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ umfassen, zielt darauf ab, den Eindruck zu erwecken, die Initiative sei nicht nur sicherheitsorientiert, sondern besitze auch einen reformistischen Charakter.

Dieses Narrativ kollidiert jedoch hart mit der konkreten Realität der Türkei. Berichte von Organisationen wie der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) belegen, dass das Land in Bezug auf demokratische Werte eine seiner dunkelsten Perioden seit dem Militärputsch von 1980 durchlebt. Es herrscht ein Klima, in dem Rechtswidrigkeit zur Normalität und die Autoritarisierung institutionalisiert wurde. In einer solchen Atmosphäre klingen Versprechen von „Demokratie“ und „Brüderlichkeit“ wie eine tiefe Ironie oder gar wie „ein schlechter Scherz“.

Der Vorhang der nationalen Einheit und die verborgenen Konflikte

Die marxistische Analyse definiert den Staat nicht als über den Klassen stehenden, neutralen Schiedsrichter, sondern als Repressions- und Ideologieapparat, der die Interessen der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, schützt. Narrative wie „Nationale Solidarität“ und „Brüderlichkeit“ erfüllen genau an diesem Punkt die grundlegendste ideologische Funktion des Staates: Sie verschleiern die Klassengegensätze. Eine kapitalistische Gesellschaft basiert naturgemäß auf unversöhnlichen Widersprüchen. Auf der einen Seite steht die Bourgeoisie, die die Produktionsmittel besitzt, auf der anderen Seite die Arbeiterklasse und die Werktätigen, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um zu überleben. Dieses grundlegende Ausbeutungsverhältnis ist die Hauptquelle gesellschaftlicher Konflikte.

Das Projekt „Eine Türkei ohne Terror“ versucht, diesen fundamentalen Widerspruch sowie die seit Jahrzehnten andauernde ethnische Unterdrückung (insbesondere in der Kurdenfrage) im Schmelztiegel der „nationalen Einheit“ aufzulösen. Durch die Schaffung einer künstlichen „Wir“-Identität gegen einen als „Terror“ kodierten gemeinsamen „Feind“ werden die wirtschaftlichen Forderungen der Arbeiter, die Suche des kurdischen Volkes nach politischen und kulturellen Rechten sowie der Kampf der Aleviten und anderer Minderheiten um gleiche bürgerliche Rechte zweitrangig oder sogar als „spalterisch“ dargestellt. Ein Beweis dafür, wie selektiv und ausgrenzend dieses Verständnis von „nationaler Einheit“ ist, ist die Tatsache, dass das Projekt sich zwar auf die Kurdenfrage konzentriert, aber mit keinem Wort die systemischen Probleme anderer ethnischer und religiöser Gruppen in der Türkei (Araber, Aleviten etc.) erwähnt. Es geht weniger darum, gesellschaftlichen Frieden zu schaffen, als vielmehr darum, jede Opposition, die nicht in die vom Staat definierten Grenzen eines genehmen Bürgertums passt, unter die Klammer des „Terrors“ zu setzen und damit zu kriminalisieren.

Das neue Gesicht des Sicherheitsstaates: Die Instrumentalisierung des Rechts

Das Projekt kann als ein weiteres Glied in der Kette der Manifestationen des Konzepts der „Sekuritisierung“ in der Türkei gelesen werden. Sobald ein Problem als „existenzielle Bedrohung für die nationale Sicherheit“ kodifiziert wird, werden normale demokratische und rechtliche Prozesse ausgesetzt; außerordentliche Maßnahmen werden legitim. Die türkische Geschichte ist voll von Beispielen, wie linke und sozialistische Bewegungen als „subversiv und spalterisch“ abgestempelt und zerschlagen wurden. Auch heute steht das Bekenntnis der Kommission zum „Rechtsstaat“ im krassen Gegensatz zur Praxis der aktuellen Regierung, die Urteile des Verfassungsgerichts und des EGMR missachtet und das Recht als politischen Knüppel einsetzt.

Dies ist ein klares Indiz dafür, wie der bürgerliche Staat Demokratie und Recht im Sinne seiner eigenen Interessen instrumentalisiert. Demokratie ist hier kein zu schützendes Ziel, sondern ein flexibles Werkzeug zur Erreichung bestimmter politischer Zwecke. Wenn es die Interessen der herrschenden Klasse erfordern, können die grundlegendsten Freiheiten im Namen der „Sicherheit“ problemlos eingeschränkt werden. Es besteht die große Gefahr, dass diese Kommission nicht die bestehende autoritäre Struktur in Frage stellt, sondern zu einer Institution wird, die deren sicherheitspolitischen Maßnahmen Legitimität verleiht.

Der Weg, der vom Waffenstillstand nicht zum Frieden führt

Das Schweigen der Waffen und die Verhinderung von Todesopfern sind zweifellos positive und unterstützenswerte Schritte. Kein Sozialist wünscht sich die Fortsetzung von Krieg und Gewalt. Die marxistische Dialektik erfordert jedoch, sich auf das Wesen hinter der Erscheinung zu konzentrieren. Die als „Terror“ bezeichnete Gewalt ist keine Ursache, sondern das Ergebnis tief liegender sozioökonomischer, politischer und kultureller Probleme. Wie der Abgeordnete der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), Ahmet Şık, in der Kommissionssitzung betonte, bedeutet eine Reduzierung des Prozesses auf die bloße Niederlegung der Waffen „nichts weiter als einen Waffenstillstand“.

Ein echter und dauerhafter Frieden erfordert, an die Wurzeln des Problems zu gehen. Dies ist nur möglich durch die Einrichtung von „Wahrheits- und Gerechtigkeitskommissionen“ zur Aufarbeitung der Vergangenheit, die Abschaffung antidemokratischer Gesetze wie des Anti-Terror-Gesetzes und vor allem durch die Schaffung eines neuen Gesellschaftsvertrags auf der Grundlage „gleicher Staatsbürgerschaft“. Die Strategie des Staates, den Konflikt von seinen Ursachen zu abstrahieren und ihn lediglich als Frage der „Waffenabgabe“ zu behandeln, ist Teil seiner Strategie, die bestehenden Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse zu bewahren. Das Problem wird nicht gelöst, sondern lediglich für eine Weile eingefroren.

Nicht verhandelbare Rechte: Demokratie ist eine Vorbedingung

Die Grundlogik des Projekts basiert auf einer problematischen Kausalität, die sich so zusammenfassen lässt: „Wenn der Terror endet, kommt die Demokratie“. Dieser Ansatz betrachtet Rechte und Freiheiten als eine Belohnung, die als Gnadenakt des Staates gewährt wird – als Verhandlungsmasse. Die sozialistische und universelle Menschenrechtsperspektive stellt diese These jedoch auf den Kopf: Demokratie ist nicht das Ergebnis von Frieden, sondern seine unabdingbare Voraussetzung.

Nur in einem Umfeld, in dem Grundrechte und -freiheiten garantiert sind, Meinungs- und Organisationsfreiheit kompromisslos gelten und Rechtsstaatlichkeit herrscht, können gesellschaftliche Probleme ohne Gewaltanwendung auf demokratischem Wege diskutiert und gelöst werden. Wie auch die TİHV betont, sind Grundrechte nicht verhandelbar. In einem Land, in dem Gesetzlosigkeit und Willkür grassieren, eine „Demokratiekommission“ einzurichten, ist wie der Versuch, das Dach eines baufälligen Gebäudes zu reparieren.

Das Misstrauen der Geschichte und der Zwang der neuen Konjunktur

Hinter der vorsichtigen Haltung der links-sozialistischen und der kurdischen politischen Bewegung gegenüber diesem Prozess verbirgt sich ein schmerzhaftes historisches Gedächtnis. Man erinnert sich gut daran, wie frühere ähnliche Initiativen – insbesondere der, in den Worten von Tanıl Bora, „verstorbene ‚Lösungsprozess‘“ – verschwendet wurden, wie der Staat solche Prozesse für seine eigenen politischen Interessen manipulierte und sie letztlich zu einer noch größeren Zerstörung führten. Der Staat ist immer die Partei, die die Regeln festlegt und die Macht besitzt, den Spielverlauf zu ihren Gunsten zu wenden. Dieses historische Erbe nährt ein tiefes Misstrauen gegenüber den Versprechungen des neuen Projekts.

Gleichzeitig wäre es eine unvollständige Analyse, anzunehmen, dieser Prozess entspringe ausschließlich der internen Dynamik der Regierung. Die sich wandelnde internationale Konjunktur, insbesondere die neuen Gleichgewichte im Nahen Osten (in Syrien und im Irak), zwingen den türkischen Staat, eine neue Position zur Kurdenfrage einzunehmen. Dieser Schritt ist also nicht nur ein innenpolitisches Manöver, sondern auch eine Folge regionaler und globaler Machtverhältnisse. Doch während diese notwendige Veränderung ein inklusives, demokratisches zivilgesellschaftliches Verständnis erfordert, sind die nationalistischen, konservativen und staatszentrierten ideologischen Codes des aktuellen AKP-MHP-Machtblocks weit davon entfernt, die Kapazität für eine solche Transformation zu besitzen.

Fazit: Der Weg zum wahren Frieden führt über den Klassenkampf

Das Projekt „Eine Türkei ohne Terror“ und die dazugehörige Kommission sind in ihrer jetzigen Form weniger ein Versuch, gesellschaftlichen Frieden zu schaffen, als vielmehr eine Initiative, die den Staat restrukturiert, das sicherheitsorientierte Paradigma mit einer neuen Rhetorik fortsetzt und vor allem darauf abzielt, Klassen- und ethnische Widersprüche durch die Ideologie der „nationalen Einheit“ zu unterdrücken. Auch wenn das Schweigen der Waffen angestrebt wird, ist das eigentliche Ziel dahinter, die Dynamiken unter Kontrolle zu bringen, die die herrschende Ordnung von Ausbeutung und Unterdrückung bedrohen.

Ein echter und dauerhafter Frieden ist nur möglich, wenn nicht die Symptome, sondern die Krankheit selbst bekämpft wird. Dies erfordert die Schaffung einer neuen, demokratischen Verfassungsordnung, die den Willen zum Zusammenleben aller in diesem Land lebenden Völker und Glaubensgruppen – nicht nur der Kurden, sondern auch der Türken, Araber, Aleviten – auf der Grundlage gleicher Staatsbürgerschaft widerspiegelt. Dieser Weg führt nicht über scheinheilige Kommissionen, sondern über einen gemeinsamen gesellschaftlichen Kampf gegen Ausbeutung, Ungleichheit und jede Form von Diskriminierung – also über den Klassenkampf. Der Frieden wird nicht durch die Gnade des kapitalistischen Staates oder des Palastes gewährt, sondern durch den Willen der Völker selbst erkämpft.

Referenzen und verwendete Quellen:

Türkiye Büyük Millet Meclisi (TBMM) bünyesinde oluşturulan “Millî Dayanışma, Kardeşlik ve Demokrasi Komisyonu” ile ilgili Türkiye İnsan Hakları Vakfı’nın (TİHV) görüş ve önerileri – TİHV – Türkiye İnsan Hakları Vakfı

Komisyonun ilk toplantısında hangi parti ne dedi?

TİHEK – Terörsüz Türkiye Sürecinde Terör Örgütünün Kendini Feshetmesi Hakkında Basın Açıklaması

“Terörsüz Türkiye” – Tanıl Bora | Birikim Yayınları

5 Ağustos 2025 | Ahmet Şık’ın TBMM’deki Komisyon Konuşması – Türkiye İşçi Partisi

Millî Dayanışma, Kardeşlik ve Demokrasi Komisyonu Hk. Değerlendirmem – Mustafa Yeneroğlu

Sürece dair notlar… – Gazete Nisan

Milli Dayanışma, Kardeşlik ve Demokrasi Komisyonu, TBMM Başkanı Kurtulmuş başkanlığında toplandı

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