Bildungssenatorin zu Islamismus an Berliner Carl-Bolle-Schule: „Es gibt kein Systemversagen“
Artikel von Niklas Liebetrau/ Berliner Zeitung
Katharina Günther-Wünsch (CDU), Berliner Senatorin für Bildung, Jugend und Familie . © dpa
Es herrscht einige Aufregung an diesem Donnerstagnachmittag vor dem Bernhard-Letterhaus-Saal im Berliner Abgeordnetenhaus. Der Bildungsausschuss tagt, vor der Tür warten Kamerateams, Reporter halten Abgeordneten Mikrofone unter die Nase: „Was sagen Sie zu den Vorfällen an der Carl-Bolle-Schule? Wie bewerten Sie, dass die Senatorin schweigt?“ Eine Frau von der SPD fühlt sich so bedrängt, dass sie den Wachschutz holen lässt.
Berlin hat wieder einen Schulskandal. Die Vorwürfe von Lehrern erinnern an den Brandbrief, der 2006 an der Rütli-Schule in Neukölln geschrieben wurde und an die Hilferufe von Lehrern im vergangenen Jahr an der Friedrich-Bergius-Schule in Friedenau. Jetzt geht es um die Carl-Bolle-Schule. Eine Grundschule in Moabit.
Am 19. Mai hatte die Süddeutsche Zeitung über Oziel Inácio-Stech berichtet, eine pädagogische Unterrichtskraft, die von muslimischen Schülern massiv angefeindet worden sei. Sie hätten ihn als „unrein“, „ekelhaft“ und „kein Mann“ bezeichnet, nachdem er seine Ehe mit einem Mann offenbart hatte. Ein Schüler soll gesagt haben: „Du Schwuler, geh weg von hier. Der Islam ist hier der Chef.“ Ein Mitarbeiter aus Israel habe die Schule verlassen, weil muslimische Kinder seine Arbeit wegen seines Jüdischseins boykottiert hätten.
Von der Schulleitung, der Schulaufsicht und der Bildungsverwaltung habe Inácio-Stech keinerlei Rückhalt erhalten, so der Bericht. Im Gegenteil: Die Schulleitung habe ihn angezeigt, wegen Fürsorgepflichtverletzung.
Oziel Inácio-Stech, mutmaßliches Mobbing-Opfer an der Carl-Bolle-Schule. © dpa
Der Fall sorgte bundesweit für Aufsehen. Vor wenigen Tagen ließ die Süddeutsche Zeitung weitere Lehrkräfte zu Wort kommen. Seit 2018 sei es regelmäßig zu Gewalt, Antisemitismus und Diskriminierungen gekommen, vor allem durch Schüler mit muslimischem Hintergrund, so die Zeitung. Gegenüber Lehrerinnen gebe es häufig Respektlosigkeiten. Die Schulleitung sei informiert gewesen. „Aber nichts wurde dagegen unternommen“, wird eine ehemalige Lehrerin zitiert, „das ist ein komplettes Systemversagen der Berliner Behörden.“
Die Bildungssenatorin hatte sich zunächst nicht öffentlich zu den Berichten geäußert. Trotz der bundesweiten Aufregung, trotz etlicher Medienanfragen. Am Donnerstag, in der „aktuellen Viertelstunde“ im Ausschuss, muss sich Günther-Wünsch nun den Fragen stellen.
Sie habe sich zunächst bewusst zurückgehalten, so Günther-Wünsch zu Beginn, um „nicht aus Unkenntnis falsche Tatsachen zu behaupten“. Dann liest sie ausführlich aus den Akten vor, „um über den zeitlichen Ablauf zu informieren“.
Demnach habe Inácio-Stechs Anwalt im Juli 2024 ein Auskunftsersuchen an die Schulleitung gestellt, das an die Schulaufsicht weitergeleitet worden sei. Im September folgte eine Beschwerde nach dem Gleichstellungsgesetz bei der Beschwerdestelle des Senats, eingelegt vom Anwalt des Lehrers. Das Ergebnis der Prüfung sei Inacio-Stech am 14. Januar 2025 übermittelt worden: Es liege weder eine Diskriminierung wegen des Geschlechts noch wegen der sexuellen Orientierung vor.
Günther-Wünsch blickt auf und sagt: „Zwischen der mir vorliegenden Aktenlage und den in den Medien erhobenen Vorwürfen ergibt sich eine deutliche Diskrepanz.“ Der von Inácio-Stech erhobene Vorwurf der homophoben Diskriminierung durch die Schülerschaft sei in den Schreiben seines Anwalts kein zentraler Punkt gewesen. Sie nennt es: „Wesenskern“. Die juristischen Schritte von Inácio-Stech und seinem Anwalt hätten sich auf unterschiedliche Rechtsgrundlagen gestützt, für die jeweils andere Stellen zuständig gewesen seien. Alle Instanzen hätten die Anliegen bearbeitet. Was die Senatorin damit genau meint, erklärt sie nicht.
Der Fall sei komplexer, als er öffentlich dargestellt werde, sagt sie. Von „Systemversagen“ könne keine Rede sein, so Günther-Wünsch. Auch wolle sie nicht von einer „massiven Beschwerdelage“ an der Schule sprechen.
Vielmehr habe die Schulleiterin, die seit 2021 im Amt ist, einen „instabilen“ Standort stabilisiert, Kooperationen aufgebaut, die Schulsozialarbeit neu aufgestellt und das Gebäude umstrukturiert. Es gebe inzwischen Räume für Teamarbeit und interkulturelles Lernen, ein digitales Schwarzes Brett, ein interreligiöses Team aus jüdischen, christlichen und muslimischen Vertretern. Sogar einen Beauftragten für Konflikte mit muslimischen
Religionshintergrund gebe es an der Schule. Es handele sich um einen attraktiven Standort, an dem derzeit fünf Referendare ausgebildet würden. Die Leiterin werde die Grundschule nun verlassen, doch das habe nichts mit dem Fall zu tun.
Auch auf Nachfragen der Abgeordneten bleibt Günther-Wünsch bei ihrer Linie: Der Fall sei „komplex“, vorschnelle Schlüsse seien fehl am Platz. „Deshalb tue ich heute etwas sehr Außergewöhnliches“, sagt die Senatorin. Sie weise die Abgeordneten auf ihr Recht auf Akteneinsicht hin. „Damit wir anschließend fundiert darüber diskutieren können, welche zusätzliche Unterstützung der Schule zuteil kommen sollte.“ Auf die Berichte weiterer Lehrer, die bis ins Jahr 2018 zurückreichen und der Schulaufsicht bekannt sein müssten, geht sie nicht ein.
Die Carl-Bolle-Grundschule in Moabit. © dpa
Dann ist die „aktuelle Viertelstunde“ vorbei. Auf dem Gang ist der Bildungspolitiker Taylan Kurt von den Grünen noch zu einem Gespräch bereit. Seine Fraktion hatte die Senatorin in den vergangenen Tagen am schärfsten kritisiert, hatte angemahnt, dass Homophobie und Antisemitismus keinen Platz an Berliner Schulen haben dürften. Moabit ist Kurts Wahlkreis, er kennt die Carl-Bolle-Schule gut, sei „mindestens schon acht mal“ dort gewesen, sagt er. Auch er spricht von einem „schwierigen Fall“, will aber nicht näher ins Detail gehen.
Nur so viel sagt er: Es solle an der Schule „fünf bis sechs Schüler“, die „sich homophob geäußert haben sollen und andere Schüler versuchen zu instrumentalisieren“. Doch die große Mehrheit an der Schule sei nicht homophob, so Kurt. Auch er möchte nicht von einem Systemversagen sprechen. Es sei falsch, alle muslimischen Schüler über einen Kamm zu scheren und damit die Schule schlecht zu reden, wie es nun in der Presse geschehe. „Es braucht jetzt dringend eine starke und erfahrene neue Leitung, die die Schulentwicklung langfristig unterstützt.“ Antisemitismus und Homophobie dürften „keinen Millimeter Platz“ an der Schule haben.
Fast wirkt es, als seien sich die meisten im Fall Carl-Bolle-Schule einig: Ja, es gebe Probleme, vielleicht ein paar muslimische Schüler, die über die Strenge schlagen, so die Erzählung. Einzelfälle eben. Dass sich auch weitere Lehrer zu Wort gemeldet und von Missständen an der Schule berichtet haben, die über Homophobie und Antisemitismus hinausgehen? Darauf möchte kaum jemand so recht eingehen.
Für die kommenden Tage hat die Senatorin noch ein Gespräch mit der Elternvertretung der Schule angekündigt. Auch mit der Schulleitung habe sie bereits gesprochen, sagte sie im Bildungsausschuss. Mit dem hauptsächlich betroffenen Lehrer, Oziel Inácio-Stech, aber ist offenbar kein Gespräch geplant