FREMDEN INFO / EXKLUSIV
Ein weiteres Schreiben, das uns erreicht hat, legt die verheerenden sozialen und psychologischen Kollateralschäden der aktuellen Rechtspraxis in der Türkei offen. Kağan Can, ein ehemaliger Lehrer, der per Notstandsdekret (KHK) aus dem öffentlichen Dienst entfernt wurde, berichtet in seinem Brief, dass sein zu 100 Prozent pflegebedürftiger Sohn İhsan durch die Verhaftung seiner Ehefrau Venhar Erkurt Can faktisch verwaist ist.
Der Vater schildert nicht nur die juristische Odyssee der Familie, sondern auch das Schicksal des 8,5-jährigen İhsan. Nachstehend veröffentlichen wir den vollständigen Inhalt des Briefes, der die Hilflosigkeit eines Vaters und seinen Kampf um Gerechtigkeit dokumentiert:
„Die Entwicklung meines Sohnes stoppte im Mutterleib durch den erlittenen Kummer“
„Ich bin Kağan Can. Vor dem 15. Juli 2016 waren meine Frau und ich als Lehrer in Tunceli tätig. Damals hatten wir zwei Kinder. Als ich im Jahr 2017 verhaftet wurde, war meine Frau im achten Monat mit unserem dritten Kind schwanger. Aufgrund des enormen Stresses und der psychischen Belastung in jener Zeit stoppte die Entwicklung des Babys im Mutterleib in der 32. Woche. Ich erfuhr erst zwei Wochen später von der Geburt meines Kindes. Meine Frau wurde festgenommen, als sie sich noch im Wochenbett befand – gerade einmal eine Woche nach der Entbindung, mit dem Neugeborenen (İhsan) auf dem Arm und zwei weiteren Kindern an ihrer Seite.
Nach einer langen Polizeihaft von 14 Tagen wurde ich zu 10 Jahren Haft verurteilt. Obwohl ich meine Strafe verbüßt hatte, wurde meine Entlassung zweimal willkürlich um jeweils drei Monate hinausgezögert, und auch von der Regelung zur Bewährungshilfe konnte ich nicht vollumfänglich profitieren. Erst vor einem Jahr wurde ich aus der Haft entlassen.“
„Unser pflegebedürftiges Kind ist nun auf sich allein gestellt“
„Wir haben drei Kinder: Unsere Tochter geht in die 8. Klasse, unser Sohn in die 5. Klasse, und dann ist da unser Sohn İhsan, der aufgrund der damaligen Erlebnisse seh- und geistig behindert zur Welt kam. Während meiner Inhaftierung führte meine Frau Venhar Erkurt Can den Überlebenskampf allein. Sie kümmerte sich nicht nur um die Kinder, sondern pflegte auch ihre gelähmte und an Alzheimer erkrankte Mutter bis zu deren Tod vor vier Monaten ganz allein.
Bedauerlicherweise wurde vor einem Monat nun auch meine Frau, die zuvor auf freiem Fuß angeklagt war, vom 2. Schwurgericht in Tunceli verhaftet. Diese Entscheidung fiel trotz der schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen unseres Sohnes İhsan.“
„Er ist 8,5 Jahre alt, muss aber immer noch gewickelt werden“

„Ich bin persönlich nach Tunceli gereist, um mit dem Richter zu sprechen und unsere Notlage zu schildern. Ich habe auf die Situation unseres Sohnes hingewiesen und beantragt, meine Frau notfalls unter Auflagen oder im Hausarrest freizulassen. Doch in der Verhandlung am 2. Dezember wurde sie zu 7 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt und ihre weitere Inhaftierung angeordnet.
Unser Sohn İhsan ist vollständig auf seine Mutter angewiesen. Sie kümmerte sich um alles, von der Nahrungsaufnahme bis hin zum Toilettengang. Obwohl er 8,5 Jahre alt ist, müssen wir ihn immer noch wickeln. Ich arbeite in der Industrie, um unseren Lebensunterhalt zu sichern; ich habe keine andere Wahl. Meine Tochter bereitet sich auf die LGS-Prüfung (Gymnasialaufnahmeprüfung) vor, versucht aber gleichzeitig, die Mutterrolle für ihre Geschwister zu übernehmen. Es ist offensichtlich, dass wir dieser Belastung nicht standhalten können.“
„Wir fordern zumindest eine Haftverschonung“
„Wir haben diesem Land nichts als gedient. Dennoch sind wir und unsere Kinder einer Behandlung ausgesetzt, die weder menschlich noch mit dem Gewissen vereinbar ist. Wir fordern, dass meine Frau zumindest bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens auf freien Fuß gesetzt wird, damit dieses Leid zumindest ein wenig gelindert wird.“
Fremden Info stellt die Frage: Wie soll ein Kind, das mit einem vorgeburtlichen Trauma und schweren Behinderungen ins Leben startete und nicht einmal seine physiologischen Grundbedürfnisse selbstständig verrichten kann, ohne seine Mutter überleben? Wir appellieren an die Verantwortlichen der Justiz und das öffentliche Gewissen, den Hilferuf der Familie Can nicht zu ignorieren.