Menschenrechte in Tunesien: Todesurteil für Kritik am Präsidenten

von Cumali Yağmur

Artikel von Hans-Christian Rößler / Faz

In Tunesien ist die Auf­regung über den „Fall 4515“ groß. Wegen mehrerer Facebook-Posts hat ein Gericht in der Küstenstadt Nabeul einen 51 Jahre alten Familienvater zum Tode verurteilt. Saber Ben Chouchane hatte auf einer Seite des Onlineportals mit wenigen Hundert Followern Staatspräsident Kaïs Saïed kritisiert und zu gewaltlosen Protesten aufgerufen.

Der Tagelöhner wurde daraufhin auf der Grundlage des Artikels 72 des Strafgesetzbuches verurteilt, der die Todesstrafe für den „Versuch, die Regierungsform zu ändern“ vorsieht. Er hat nach Ansicht des Gerichts zudem den Präsidenten und die Justiz beleidigt und falsche Nachrichten verbreitet. Zwei Tage nachdem sein Anwalt in Berufung gegangen war, begnadigte ihn der Präsident. Der Vater von drei Kindern war im Januar auf dem Weg zu einem Arzttermin festgenommen worden.

Menschenrechtler: Kritik wird nicht toleriert

Die Empörung ebbt auch außerhalb Tunesiens nicht ab. Das Justizsystem werde „instrumentalisiert, um die Mei­nungs­freiheit und das geringste An­zeichen von Dissens zu unterdrücken“, teilte die Menschenrechtsorganisation Am­nesty International nach der Verhän­gung der Todesstrafe mit. Laut der tunesischen Richtervereinigung illus­triert der Fall das „Klima der Angst und Unsicherheit unter den Richtern“. Im Internet wurde die Sorge vor einer weiteren „Erosion der rich­ter­lichen Unabhängigkeit“ und der „Aus­höhlung der Gewaltenteilung“ geäußert.

Trotz der Begnadigung sei die Botschaft an die Tunesier klar, heißt es bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW): „Es wird keine Kritik toleriert, egal in welcher Form.“ Es sei das erste bekannt gewordene Todesurteil wegen friedlicher Meinungsäußerungen in Tunesien. Ben Chouchane hatte laut HRW in seinen Facebook-Posts die Freilassung politischer Gefangener gefordert und dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen, um sich der „Konfiszierung der Revolution“ zu widersetzen.

Laut Menschenrechtlern wurde in diesem Jahr mindestens ein Dutzend Dissidenten wegen Anklagen, die die Todesstrafe nach sich ziehen könnten, vor Gericht gestellt, und sie erhielten lange Haftstrafen. In Tunesien wird die Todesstrafe seit Anfang der Neunzigerjahre nicht mehr vollstreckt und meist in langjährige Freiheitsstrafen umgewandelt.

Präsident Saïed, der vor einem Jahr im Oktober mit mehr als 90 Prozent der Wählerstimmen bestätigt worden war, hatte 2021 die ganze Macht im Staat an sich gerissen. Er schickte damals das Parlament nach Hause, entließ die Regierung und verhängte den Ausnahmezustand. Während man in Berlin und Brüssel daran arbeitet, Tunesien zum sicheren Herkunftsland zu erklären, greifen dort die Justizbehörden immer härter gegen Regimekritiker durch.

In diesem Jahr kam es bereits zu mehreren Großprozessen, die internationale Beobachter und Diplo­maten als eine „Farce“ bezeichnen. Das Regime des einstigen demokratischen Hoffnungslandes geht gegen alle vor: Journalisten, Anwälte, NGOs und sogar gegen frühere Staats- und Regierungschefs.

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