Von Tagespiegel
Eine Nordseeinsel im Frühjahr 1945. Fatih Akin hat den Erinnerungsroman „Amrum“ seines Freundes Hark Bohm als atmosphärische Coming-of-Age-Geschichte verfilmt.
Nanning (Jasper Billerbeck) ist unterwegs zur Robbenjagd. © Foto: dpa/Warner Brothers/Gordon Timpen
Nordsee ist Mordsee. Das erlebt Nanning in einer mondhellen Nacht, als er über den Kniepsand stromert, um Treibholz zu sammeln. Da liegt ein britischer Fallschirmspringer am Strand, den das Meer angeschwemmt hat. Mausetot, die Augen von Möwen herausgehackt.
„Nordsee ist Mordsee“, so heißt ein Klassiker des Filmemachers Hark Bohm, dessen 2024 als Roman erschienene, autobiografische Erinnerungen an die Kriegskindheit auf Amrum Fatih Akin verfilmt und beim Festival von Cannes uraufgeführt hat. Im Vorspann wird „Amrum“ als ein „Hark Bohm Film von Fatih Akin“ gelabelt, was die Temperatur der Coming-of-Age-Geschichte gut beschreibt.
Nanning (Jasper Billerbeck), der als Familienernährer fungiert und bei Bäuerin Tessa (Diane Kruger) arbeitet, um Milch für seine kleineren Geschwister und Korn für die Hühner zu ergattern, kämpft trotzdem darum. Selbst wenn er dafür Karnickel ausnehmen, Gänseeier klauen, als Robbenköder dienen und bei auflaufender Flut durch den lebensgefährlichen Priel zur Insel Föhr schwimmen muss.
Dass Nanning kein gebürtiger Insulaner, sondern ein „Festländer“ ist, bekommt er immer wieder zu spüren. Mitsamt Mutter Hille, Tante Ena (Lisa Hagmeister) und den Geschwistern ist er auf die Insel von Hilles Vorfahren gekommen, um dem Bombenkrieg zu entfliehen. Die elterliche Villa in Hamburg ist im Feuersturm in Flammen aufgegangen. Und dass Vater Wilhelm bei den Nazis als Ideologe und SS-Führer ein hohes Tier und auch Hille stramme Nationalsozialistin ist, bringt ihm zusätzlich Misstrauen ein.
Etwas überauthentisch ist dagegen die Entscheidung, die Amrumer einen Mix aus Hochdeutsch und der ehemals auf der friesischen Insel üblichen Sprache Öömrang sprechen zu lassen. Deren schwer zu enträtselndes Klangbild, das Untertitel übersetzen, verstärkt den Charakter einer vom Festland getrennten Welt mit eigenen Regeln, auf der geräucherte Schollen als „Amrum-Geld“ fungieren.
Insgesamt gelingt es Bohms und Akins Buch jedoch, Exotikfallen, die bei Seefahrer-, Insel- und Meeresstoffen allerorten lauern, zu meiden. Bei Gruseldialogen, wie dem, in dem die vom Zusammenbruch des NS-Regimes erschütterte Mutter Hille dem überforderten Sohn Nanning das Weinen untersagt und schreit „Wegen Heulsusen wie dir haben wir den Krieg verloren!“, verbietet sich jede Inselromantik.