„Unsäglich“ – Kassels Oberbürgermeister wirft Bundeskanzler Merz Spaltung der Gesellschaft vor

von Fremdeninfo
Sven Schoeller Kassel BÜRGERMEISTER

Artikel von Matthias Lohr

Debatte über Migration

Die Äußerungen von Bundeskanzler Merz zur Migration sorgen auch in Kassel für Kritik – nicht nur beim Ausländerbeirat. Auch Oberbürgermeister Schoeller findet deutliche Worte. Es gibt aber auch Zustimmung.

Kassel – Chuks Lewis Samuel-Ehiwario war selten so wütend wie in diesen Tagen. Der 52-Jährige ist stellvertretender Vorsitzender des Ausländerbeirats und kann sich auch eine Woche nach den umstrittenen Äußerungen von Bundeskanzler Friedrich Merz zum Thema Migration in Rage reden. Samuel-Ehiwario sagt: „Merz sollte ein Kanzler für alle Deutschen sein. Aber mit ihm haben wir längst amerikanische Verhältnisse. Er ist die falsche Person für das Amt.“

Nicht nur der Stationsleiter im DRK-Seniorenzentrum Jungfernkopf ist aufgebracht über das, was Merz am Dienstag voriger Woche in Potsdam gesagt hat. Der CDU-Politiker erklärte, dass die illegale Migration stark gesunken sei und fügte hinzu: „Aber wir haben natürlich im Stadtbild immer noch dieses Problem.“ Seitdem wird Merz Rassismus vorgeworfen, und zwar nicht zum ersten Mal. In der Vergangenheit sprach der Mann aus dem Sauerland auch schon von kleinen Paschas und behauptete, Geflüchtete würden Deutschen die Termine beim Zahnarzt wegnehmen. Auch deshalb nahm Samuel-Ehiwario all seine Wut zusammen, wie er sagt, und formulierte mit anderen Mitgliedern des Ausländerbeirats einen Post bei Instagram, in dem es heißt: „Wer Menschen mit Migrationsgeschichte als ,Problem im Stadtbild‘ bezeichnet, greift (fast) jede vierte Person in unserem Land an – und damit den Zusammenhalt, der Deutschland stark macht.“

Kassels OB Sven Schoeller entsetzt nach Merz-Äußerungen

In Berlin gingen am Sonntagabend Hunderte Menschen gegen Merz auf die Straße. Das Motto lautete: „Brandmauer hoch! Wir sind das Stadtbild.“ Ähnlich klingt das bei Kassels Oberbürgermeister Sven Schoeller. Auf HNA-Anfrage erklärt der Grünen-Oberbürgermeister: „Die Äußerungen des Bundeskanzlers sind unsäglich und versprühen das Gift gesellschaftlicher Spaltung.“ Migration und Migrationshintergrund seien bereichernder Bestandteil unserer Gesellschaft. „Wir identifizieren uns mit unserem Stadtbild“, sagt Schoeller.

Trotz des Gegenwinds aus den Kommentarspalten legte Merz am Montag nach. Wer etwa seine Töchter oder Freunde frage, werde bestätigt bekommen, dass „das ein Problem sei – spätestens mit Einbruch der Dunkelheit“. Das habe er mit seinem Stadtbildsatz gemeint. Mit anderen Worten: In Stadtvierteln mit einem hohen migrantischen Bevölkerungsanteil fühlen sich viele Menschen nicht sicher.

Unternehmer Michael Gremmer würde „Satz von Merz unterschreiben“

In Kassel gilt der Bereich um den Stern als Kriminalitätsschwerpunkt. Jugendliche sagen uns, dass sie dort nicht gern allein unterwegs sind. Und auch Michael Gremmer kann den Satz von Merz verstehen. Der Unternehmer ist in Bettenhausen mit vielen Ausländern als Freunden aufgewachsen, wie er sagt. Der 61-Jährige meint, es komme darauf an, wo man wohne. Im Vorderen Westen gebe es keine Probleme: „Aber wenn ich am Stern eine Wohnung hätte, würde ich den Satz von Merz unterschreiben.“

Gremmer hat vier Läden in der Oberen Königsstraße, die er vermietet. Demnächst endet einer der Mietverträge. Der Unternehmer ahnt, was passiert, wenn er eine Annonce schaltet: „Es wird sich kein deutscher Kaufmann melden, aber ich könnte 15 Barber-Shops dort unterbringen.“ Woran das liegt, weiß er nicht. Es gebe in Kassel nun Viertel, in denen man nicht mehr weiß, ob man in Deutschland sei: „Damit müssen wir leben.“

Linke- und SPD-Stimmen aus Kassel entschieden gegen Merz-Worte

Auch die Kasseler Linken-Fraktionschefin Sabine Leidig sieht Veränderungen im Stadtbild, kommt aber zu einem anderen Schluss: „Unsere Städte werden nie wieder so aussehen wie in den Fünfzigern oder Achtzigern, die Barbershops gehören genauso dazu wie Döner-Läden, Shishabars oder Kopftücher. Das ist kein Problem, sondern eine Veränderung und oft auch eine Bereicherung.“ Dem Kanzler wirft die Ex-Bundestagsabgeordnete vor, von ganz oben rassistische Vorurteile und Feindseligkeiten zu unterstützen. Damit stärke er die AfD. Auch SPD-Fraktionschefin Anke Bergmann wirft Merz vor, Rassismus zu normalisieren: „Friedrich Merz zeigt mit seiner Sprache deutlich, wo die braunen Schatten in der Union liegen. Anstatt zu verbinden, spaltet er – und die CDU schaut dabei weitgehend tatenlos zu.“ Und die Grünen-Fraktionsvorsitzende Christine Hesse sagt, der Kanzler „macht keine Politik für, sondern gegen Menschen und grenzt mit seinen Worten einen großen Teil unserer Gesellschaft aus“.

Bislang keine Demo in Kassel geplant

Selbst in der Partei von Merz ist man offensichtlich nicht recht glücklich mit den Äußerungen des Regierungschefs. CDU-Fraktionschef Holger Augustin versteht, „dass die Formulierung bei manchen Menschen Irritation ausgelöst hat“. Man müsse den Satz jedoch im Zusammenhang betrachten. Merz habe auf bestehende Integrationsprobleme und Fehlentwicklungen bei ungeregelter Migration hinweisen wollen. Auch in Kassel gebe es soziale Brennpunkte, „in denen Integration noch besser gelingen muss“, erklärt Augustin. Das habe aber meist mehr mit Bildung, Arbeitsmarktchancen und sozialer Lage zu tun als mit Herkunft. Auch FDP-Fraktionsvorsitzender Andreas Buschmeier nennt die Wortwahl des Kanzlers unglücklich. Integrationsprobleme müsse man benennen, ohne Menschen zu stigmatisieren. Teile der politischen Linken würden jedoch moralisieren sowie ideologisieren und so verhindern, dass offen über Integration und Verantwortung gesprochen werden könne. Die AfD-Fraktion ließ unsere Anfrage unbeantwortet.

Eine Demo gegen Merz wie in Berlin ist in Kassel bislang nicht geplant. Chuks Lewis Samuel-Ehiwario vom Ausländerbeirat ist derweil weiter sehr wütend. Er sagt: „Ich schäme mich für die SPD, dass sie eine Koalition mit der Union unter diesem Kanzler führt.“ (Matthias Lohr)

Die Kasseler Innenstadt ist stets im Wandel. Geschäfte eröffnen, neue Gastro-Angebote stehen in den Startlöchern und auf Baustellen geht es voran – das ist der aktuelle Stand.

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