SPD-Generalsekretärin: „Wir brauchen einen Spurwechsel in der Asylpolitik“
Artikel von Hanning Voigts/ F.R.
Josefine Koebe, hier beim SPD-Parteitag in Frankfurt. © Michael Schick
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SPD-Generalsekretärin Josefine Koebe drängt auf eine differenzierte Migrationsdebatte und Rückkehr
zum Markenkern der SPD. Ein Interview.
Josefine Koebe ist als Generalsekretärin der Hessen-SPD angetreten, einen neuen Politikstil zu pflegen. Dazu gehört, jenseits der Koalitionsdisziplin Debatten anzustoßen. Wir treffen die 35-Jährige und ihr Social-Media-Team am Rande des Hessentags in Bad Vilbel.
Frau Koebe, die Frankfurter Rundschau hat Sie neulich mit dem Satz zitiert, dass wir beim Bleiberecht eine Lage vorfinden, die dem gesunden Menschen nicht mehr standhält. Welche Forderung leiten Sie darauf ab?
Es gibt Menschen, die sich sehr bemühen, Teil dieser Gesellschaft zu werden, die die Sprache lernen, die hier die Schule besucht, eine Ausbildung gemacht haben. Und wir haben akuten Arbeits- und Fachkräftemangel. Diese Integrationsbemühungen müssen belohnt werden. Das sieht die aktuelle Rechtslage nicht vor, deshalb brauchen wir da Änderungen. Auch in der undifferenzierten gesellschaftlichen Debatte. Wo bleibt der Bild-Zeitungsartikel, der fragt, wer pflegt eigentlich Opa? In Hessen hat jede dritte Person eine internationale Migrationsgeschichte, in den Ballungsräumen sogar jede zweite. Das müssen wir sehen.
Die aktuelle Rechtslage sieht Anerkennung vor oder die Abschiebung, die etwa wegen der Lage im Herkunftsland zur Duldung führen kann mit entsprechenden Einschränkungen bei Bleibestatus oder Arbeitsrecht. Sie plädieren als dritte Alternative für den Spurwechsel?
Ja. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss dahingehend verändert werden, dass diese Menschen, die hart arbeiten, die sich integrieren, eine Arbeitserlaubnis bekommen. Es geht um Chancen für diese Menschen und für uns. In meinen Gesprächen mit den Bürgerinnen und Bürgern höre ich meist, dass es grundsätzlich um in Anführungszeichen „die Ausländer“ geht. Nicht um den, den man kennt und der noch den einzigen Laden im Dorf betreibt. Niemand hat etwas dagegen, wenn jemand kommt und hier arbeitet und etwas Gutes für alle einbringt. Zurzeit haben wir eine überhitzte Asyldebatte. Wir brauchen mehr Differenzierung und konstruktive Vorschläge. Dazu leisten wir als Hessen-SPD einen Beitrag.
Sie sind Koalitionspartnerin der Union, sowohl im Bund als auch auf Landesebene. Wie wollen Sie Ihre Vorstellungen durchsetzen?
Wir werden uns an den Koalitionsvertrag halten. Ich verstehe meine Aufgabe als Generalsekretärin darin aufzuzeigen, was SPD pur ist. Was unsere Haltung ist, unsere Werte sind, für die man uns wählen sollte. Meine Rolle ist, über einen Koalitionsvertrag hinaus eine differenzierte gesellschaftliche Debatte anzustoßen. Etwa über die Anerkennung von Lebensrealitäten, gerne unterlegt mit empirischen Fakten.
Gleichzeitig will die Koalitionspartnerin im Bund trotz Verwaltungsgerichtsurteils an den Zurückweisungen von Geflüchteten an den Grenzen festhalten. Wie wollen Sie in dieser Gemengelage mit so einer Debatte weiterkommen?
Da hat ein solches Bündnis wie eine Regierungskoalition Grenzen. Sich nicht an geltendes Recht zu halten, ist ein Grund, auch mal ein Stoppschild aufzustellen. Das haben ja auch viele innerhalb der SPD sofort getan. Von der hessischen Seite kam der sehr klare Appell, sich an die Rechtslage zu halten.
Ein weiteres Stoppschild haben Köpfe der Sozialdemokratie aufgestellt beim Thema Friedenspolitik beziehungsweise Kriegspolitik. Wie steht die hessische Generalsekretärin zu dem Manifest?
Als Generalsekretärin ist es meine Aufgabe, die sozialdemokratische Flamme zu wahren und dafür zu sorgen und zu erlauben, dass genau solche Debatten geführt werden. Dass bestimmte kontroverse Themen dazugehören, auch Migration. Ich habe die Autoren so verstanden, dass sie erstmal einen Beitrag liefern wollten. Dieser Beitrag entspricht nicht meiner eigenen inhaltlichen Position. Woran es dem Manifest mangelt, ist, konkrete Lösungen aufzuzeigen. Wir haben es nicht mit einem Gesprächspartner zu tun wie Russland, mit dem wir einfach mal so verhandeln können. Und die Sache ist komplexer. Die Mehrheit der Partei hat da einen anderen Kurs. Die SPD ist eine Friedenspartei, die Realitäten sieht und echte Lösungen sucht.
Diese Friedensdebatte wird sicherlich auch eine Rolle auf dem Bundesparteitag Ende Juni spielen. So wie das Bundestagsergebnis von nur 16,4 Prozent, das weiter der Aufarbeitung harrt. Wie wollen Sie bei diesen großen Themen durchdringen mit dem Bleiberecht?
Eine Lösung sehe ich als Bildungsökonomin in der Bildung. Die Investition in die Bildung muss mindestens genauso groß sein wie in die Rüstung. Da ist Deutschland im europäischen Vergleich immer noch unterdurchschnittlich unterwegs. Die Rolle der SPD ist, laut in diese Kerbe zu schlagen. Die SPD sieht sich immer in der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen. Niemand will von Blauen regiert werden. Aber ich glaube, es ist das letzte Mal, dass sie diese Folge von Niederlagen weiter in Kauf nimmt. Wir müssen zu unserem Markenkern zurückkehren. Wir müssen wieder die Frage mit einem Satz beantworten können, warum die SPD?
Wenn Sie gerade über Investitionen in Bildung sprechen: Wie passt das zusammen mit dem Rotstift, den Schwarz-Rot an den hessischen Hochschulen ansetzt?
Noch nie waren die Kassen so leer. Da muss die SPD in ihren drei von elf Ministerien Schwerpunkte setzen. Wir sparen nicht an sozialen Infrastrukturen. Und wir stellen Weichen für die Zukunft. Hessen hat gerade sechs Exzellenzcluster eingeworben, das ist Spitzenforschung und Potenzial für Unternehmensansiedlungen und Fachkräfte in Hessen. Das sichern wir. Wir geben alles, damit kurzfristig unvermeidliche Kürzungen mittelfristig wieder ausgeglichen werden. Aber wir müssen uns auch ehrlich machen: Wir können uns nicht mehr alles leisten. Reformen machen keinen Spaß, weil man Leuten auch was wegnehmen muss. Deswegen sind die Kämpfe groß. Die Gespräche führen wir gerade.
Schon der Haushalt 2025 war schwierig. Die Erhöhung der Beamtenbesoldung wurde verschoben, die Hochschulen mussten ihre Rücklagen hergeben. Ist das jetzt eine Belastungsprobe für die Koalition?
Nein. Wir sind uns grundsätzlich einig, dass man alle Spielräume, die beispielsweise jetzt vom Bund gekommen sind, ausreizt. Das Defizit ist enorm. Es braucht jetzt Investitionen in die Zukunft, alles andere könnte ich meinen Kindern auch gar nicht erklären. Der Ministerpräsident von NRW sagt, dass im Durchschnitt in allen Ländern jeweils fast zehn Prozent der Haushalte gekürzt werden müssen. Das wären für Hessen ungefähr vier Milliarden. Die Antwort Hessens ist der Blick auf die Strukturen, auf die Bürokratie. Bei den Förderungen werden wir schauen, wo bringt der Euro, den man investiert, die größtmögliche Wirkung? Wir drehen jeden Euro dreimal um. Das macht keinen Spaß, aber mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung kriegen wir das hin.
Aber es gibt ja die Bundesmittel aus dem Investitionsprogramm?
Das Sonderprogramm Bund wird auf jeden Fall zu mehr als zur Hälfte der investiven Mittel auch an die Kommunen weitergegeben. Die Landesregierung nimmt die Sorgen der kommunalen Familie ernst und wird Maßnahmen vorschlagen. Die Notlage der Kommunen ist grundsätzlich groß. Trotzdem besteht Einigkeit darin, die Dinge nicht schönreden zu wollen. Es geht auch darum, gemeinsam die Demokratie zu schützen. Wenn die kommunalen Parlamente nicht mehr handlungsfähig sind und die Ehrenamtlichen nur noch entscheiden müssen, welches Schwimmbad sie jetzt schließen müssen, ist das Tinte in die Füller der AfD. Es geht darum, die Leute ernst zu nehmen, sie aber auch mit einzubinden in den Problemlösungsprozess.
Sie sind als Landtagsabgeordnete angetreten mit dem Anspruch, einen neuen Stil fahren zu wollen und ehrlicher mit den Leuten zu reden. Sind Sie nach eineinhalb Jahren desillusioniert?
Nein. Die Leute spiegeln mir, dass sie mich weiter als erfrischend und auch als echt wahrnehmen. Wenn das nicht mehr wäre, glaube ich, dann wäre es irgendwann auch mit meiner Energie vorbei. Der Job muss mir Spaß machen, und das tut er nach wie vor. Was mir momentan eher im Kopf rumgeht, ist die Frage, wie wir es schaffen, dass Menschen mit ihren Sorgen auch irgendwo andocken können, Gehör finden. Dafür brauchen wir Strukturen. Viele haben speziell durch die Pandemie ihr soziales Umfeld verloren. Das ist ein Riesenthema, dass diese Menschen sich alleingelassen fühlen. Da müssen wir ran.
Zur Person
Josefine Koebe ist im Januar 2024 erstmals in den Landtag eingezogen und wurde im März zur SPD-Generalsekretärin gewählt. Ihr Wahlkreis ist die Bergstraße. Aufgewachsen ist die vierfache Mutter in Bensheim.
Die promovierte Bildungsökonomin trat 2013 in die SPD ein. Die heute 35-Jährige leitete Forschungskooperationen in der frühkindlichen Bildung. Im Landtag ist sie stellvertretende Vorsitzende des Haushaltsausschusses und Sprecherin für frühkindliche Bildung der SPD-Fraktion. jur