Von Mehmet Tanlı
CDU-Chef Merz sah sich für seine Äußerung „Migranten verschandeln das Stadtbild“ zu Recht heftiger Kritik ausgesetzt. Eines ist sicher: Deutschland ist seit langem ein Einwanderungsland. Was sich laut Soziologen ändert, ist der Diskurs über Migration.
Seit einigen Tagen diskutiert Deutschland über die diskriminierenden, rassistischen, vorurteilsbehafteten und pauschalisierenden Worte des christdemokratischen Oppositionsführers Friedrich Merz, die sich gegen Migranten richten. Dies sind Worte, die ein führender Politiker nicht sagen sollte. Solche Worte haben wir bisher nicht einmal von den Führern der rechtsextremen und rassistischen AfD (Alternative für Deutschland) gehört, über die wir uns sonst aufregen.
Diese Worte sind äußerst unverantwortlich, respektlos, herabwürdigend, verletzend und gefährlich, weil sie auch zu Gewalt aufrufen. Sie sagen uns Migranten: „Ihr gehört nicht zu dieser Gesellschaft.“ Diese verallgemeinernde, pauschale Haltung ist völlig realitätsfern. Ja, ein Teil der kürzlich aus Syrien und Afghanistan gekommenen Flüchtlinge hat Schwierigkeiten bei der Integration, aber das darf nicht dazu führen, dass wir alle zur Zielscheibe gemacht werden.
Dabei ist die Realität in Deutschland eine ganz andere. Migranten leben hier seit 65-70 Jahren, inzwischen in der vierten Generation. Mindestens ein Viertel der Gesellschaft hat einen Migrationshintergrund, von denen wiederum mindestens die Hälfte die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt oder zwei Drittel eine doppelte Staatsbürgerschaft haben.
Heute sind Migranten in allen Lebensbereichen präsent. Sie sind Arbeiter, Beamte, Unternehmer, Künstler, Juristen, bei der Polizei, in der Justiz, in sozialen und staatlichen Einrichtungen, sie sind Politiker, in den Medien, Führungskräfte in der Zivilgesellschaft. Auch wenn sie zahlenmäßig nicht immer proportional vertreten sind, gibt es kaum einen Bereich, in dem sie nicht zu finden sind.
Zudem gibt es immer wieder Erklärungen aus Arbeitgeberkreisen – den „Freunden von Merz“ –, dass die deutsche Wirtschaft jährlich 300.000 neue Arbeitskräfte benötigt, um den bestehenden Wohlstand zu sichern.
Er will die an die AfD verlorenen Stimmen zurückgewinnen
Warum also hat Merz so gesprochen? Erstens ist Merz ein rechter, wirtschaftsfreundlicher Politiker, und laut jüngsten Umfragen sind nur 27 Prozent der Bevölkerung mit seiner Arbeit zufrieden. Zweitens will er die an die AfD verlorenen Stimmen seiner Partei zurückgewinnen und merkt dabei nicht, dass er damit nur noch tiefer sinkt.
In Merz‘ Partei, der CDU, gibt es interessante Entwicklungen. Die Rufe nach einer Zusammenarbeit mit der AfD werden lauter, und Parteifunktionäre äußern sich auf eine Weise, die dem rechtsextremen Lager gefällt. Gleichzeitig gibt es aber auch Rücktritte aus Protest dagegen.
In Sachsen-Anhalt, einem ostdeutschen Bundesland, liegt die AfD derzeit bei 40 Prozent und könnte bei den Wahlen im kommenden September nicht mehr auf die bisher abgelehnte Zusammenarbeit mit der CDU angewiesen sein – eine Kooperation, die auf kommunaler Ebene bereits praktiziert wird. Um die Menschenrechtsanwältin Christina Clemm zu zitieren: „Wenn ein CDU-Vorsitzender eine solche Äußerung macht, ist es keine Überraschung, wenn selbstbewusste Neonazis zur Tat schreiten, und es sollte niemanden wundern, wenn diese Rassisten jeden auf der Straße jagen und verprügeln, der nicht in ihr Menschenbild passt.“
Man kann sagen, dass die Kinder, Enkel und Verwandten der ersten Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter schwersten Bedingungen im Bergbau, in der Metallindustrie und im Dienstleistungssektor maßgeblich am Wiederaufbau Deutschlands beteiligt waren, heute sehr gefährlichen und schweren Zeiten entgegensehen.
In den sozialen Medien kursierten Stellungnahmen und Videospots von den Grünen und der Linkspartei, die Merz aufforderten, seine Worte zurückzunehmen und sich zu entschuldigen. Das heißt, auch von deutschen Demokraten gibt es laute Kritik an Merz.
Deutschland ist nicht mehr das alte Deutschland – weder politisch noch wirtschaftlich oder in Bezug auf die Sicherheit.
Ausdruck einer ethnischen Gesinnung
Im gegenwärtigen politischen Klima ist die Äußerung von Merz keine unglückliche Wortwahl, sondern eine Ansage.
Sie ist eine Bestätigung des sogenannten „Remigrations“-Versprechens der AfD. Sie ist der Ausdruck eines rassistisch-nationalistischen Deutschlandbildes. Das ist menschenverachtend. Wenn nicht jeder, der „Nie wieder!“ sagt, aktiv wird und auf diese Worte mit starkem Protest reagiert, wird die verbale und physische Gewalt gegen Migranten zunehmen, und diese Worte des Widerstands werden zu einer leeren Phrase verkommen, wenn sie nicht richtig analysiert werden.