Artikel von Friederike Böge/ Faz
Der türkische Präsident hätte seinen Staatsanwalt einfach anweisen können, fünf Jahre Haft wegen Korruption und ein Politikverbot gegen Ekrem İmamoğlu zu fordern. Das hätte völlig ausgereicht, um zu verhindern, dass sein prominentester Gegner bei der nächsten Präsidentenwahl antreten kann.
Doch so geht ein Recep Tayyip Erdoğan nicht vor. Er lässt seinen Staatsanwalt 2352 Jahre Haft fordern – und ganz nebenbei ein Verbot der ältesten und größten Oppositionspartei des Landes in Betracht ziehen. Die Anklageschrift ist eine Machtdemonstration. Damit erklärt der Präsident, dass er es sich leisten kann, seine Gegner mit absurden Anschuldigungen zu überziehen.
Sein Ziel ist die Demoralisierung der Opposition. Die Demonstranten auf den Straßen sollen sich fragen: Was hilft es noch, Widerstand zu leisten, wenn Erdoğan schalten und walten kann, wie er will? Wenn weder die Gerichte noch seine NATO-Partner daran Anstoß nehmen? Als Kronzeugen hat die Staatsanwaltschaft Leute aus dem Umfeld İmamoğlus gewonnen, die aus Angst um die Sicherheit ihrer Familien oder vor einer dauerhaften Inhaftierung klein beigegeben haben. Jeder Politiker von İmamoğlus Republikanischer Volkspartei (CHP) muss sich fragen, ob er bereit ist, für diesen Kampf ins Gefängnis zu gehen.
Trotz allem ist die Partei bisher nicht eingeknickt. Sie baut darauf, dass die Anklageschrift nicht nur die Macht, sondern auch die Schwäche Erdoğans offenlegt. Der Präsident gibt damit zu erkennen, dass er nicht glaubt, noch eine weitere Wahl mit halbwegs regulären Mitteln gewinnen zu können. Selbst im Lager seiner Anhänger schwindet seine Popularität. Das hat vor allem mit der Kaufkraftkrise zu tun, mit der die Türken seit vier Jahren kämpfen. Allerdings sind die nächsten Präsidentenwahlen noch zwei Jahre hin. Man kann sicher sein, dass Erdoğan kurz vorher wieder Wahlgeschenke verteilen und bis dahin noch mit einigen Überraschungen aufwarten wird.
Eine davon könnte ausgerechnet die Freilassung des kurdischen Oppositionspolitikers Selahattin Demirtaş nach neun Jahren Haft sein. So jedenfalls wird es in Ankara gemunkelt. Der frühere Hoffnungsträger der Linken war Erdoğan bisher ein Dorn im Auge, weil er wegen Demirtaş 2015 seine absolute Mehrheit im Parlament verlor.
Man kann sich kaum vorstellen, dass der Kurdenpolitiker einen Deal mit dem Präsidenten macht. Kürzlich hat Demirtaş gefordert, dass der Friedensprozess mit der Guerillatruppe PKK nicht auf eine Entwaffnung der Kämpfer beschränkt sein dürfe, sondern mit einem gesellschaftlichen Versöhnungsprozess zwischen Kurden und Türken einhergehen müsse. Als Beispiel schlug er vor, dass die türkische Nationalmannschaft in der Kurdenhochburg Diyarbakır spielen sollte.
Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Erdoğan zu einem solchen Prozess bereit wäre, über den er nicht die komplette Kontrolle hätte. Genau aus dem Grund wird der Prozess hinter verschlossenen Türen verhandelt. Er ist so intransparent, dass bisher nicht einmal bekannt ist, ob die PKK schon damit begonnen hat, ihre Waffen abzugeben. Sollte Demirtaş tatsächlich freikommen, würde der Prozess eine neue Dynamik bekommen. Für Erdoğan hätte das vermutlich einen Vorteil: Das Schicksal İmamoğlus würde vorerst in den Hintergrund treten.