Von: Kamil Taylan
Der Fall Ekrem İmamoğlu, seit März 2025 inhaftierter Oberbürgermeister von Istanbul, ist in der Türkei kein Strafverfahren mehr. Er ist ein Infrastrukturprogramm mit Handschellen. Im November 2025 kommt die Großanklage, Ende November nimmt das Gericht sie an – und schon steht die Bühne: über 400 Angeklagte, fast 4.000 Seiten Anklage, dazu die Staatsanwaltschaft mit einer Haftforderung von bis zu 2.352 Jahren. Das ist keine Zahl, das ist ein Soundeffekt. Man will nicht nur bestrafen, man will beeindrucken. Es soll groß wirken, so wie alles, was nicht mehr überzeugen kann.
Weil man für solche Dimensionen auch Platz braucht, baut der Staat in Windeseile eine Prozesshalle im Gefängnis von Istanbul. Ein bisschen wie Messe Frankfurt, nur ohne Messe. Platz für mehr als 400 Angeklagte – und gleich noch für etwa 1.500 Verteidiger, damit später niemand sagen kann, es habe an „Waffengleichheit“ gefehlt. Der Rechtsstaat kriegt hier eine neue Disziplin: Eventmanagement.
Der Zeitplan ist die eigentliche Pointe. Vorgesehen sind rund 4.600 Verhandlungstage. Selbst wenn das Gericht an praktisch jedem Arbeitstag des Jahres tagt, dauert das etwa 18 Jahre. Das ist kein Prozess, das ist eine Lebensversicherung – nur gegen den Angeklagten. Man muss İmamoğlu dann nicht politisch schlagen; man lässt ihn einfach im Terminplan altern. Opposition wird so zur Frage der Ausdauer, nicht der Mehrheit. Und wenn danach noch Revision und Rechtsmittel kommen, wird aus der Verhandlung eine Serie mit unklarer Staffellänge. Cliffhanger garantiert.
Inhaltlich liefert die Anklage das übliche Panorama: Organigramm, İmamoğlu als Gründer und Anführer einer angeblichen kriminellen Organisation, dazu ein Schaden von rund 3,8 Milliarden US-Dollar. Ein Jahrzehnt Tatzeitraum, alles schön breit verteilt. So schreibt man keine Anklage, so schreibt man ein Bild: groß, dunkel, eindeutig. In solchen Geschichten muss man weniger beweisen – man muss nur verhindern, dass jemand genauer hinschaut.
Und damit die Verteidigung nicht auf falsche Gedanken kommt, bekommt sie gleich ihre eigene Nebenhandlung. İmamoğlu wird von Anwälten wie Kemal Polat, Mehmet Pehlivan und Nusret Yılmaz vertreten – erfahrene Leute, was sie in diesem Setting sofort verdächtig macht. Im Juni 2025 landet Pehlivan im Gefängnis, weil gegen ihn wegen angeblicher „Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation“ ermittelt wird. Kritiker sagen: ohne die Genehmigung des Justizministeriums nach Art. 58 Anwaltsgesetz – aber Details sind in solchen Verfahren eher Dekoration. Gegen Polat und Pehlivan gibt es außerdem Vorwürfe der Zeugenbeeinflussung, basierend auf Aussagen aus „effektiver Reue“ (etkin pişmanlık). Das ist dieses praktische System, bei dem Wahrheit manchmal so flexibel ist, wie es die Ermittlungsstrategie gerade braucht.
Als wäre das nicht genug, gibt es das Verfahren-Portfolio: das Beleidigungsurteil von Dezember 2022 (2 Jahre, 7 Monate, 15 Tage und ein Politikverbot), ausgelöst durch das Wort „Idioten“ aus November 2019. İmamoğlu sagt: Das galt nicht der Wahlbehörde, sondern Innenminister Soylu, der ihn vorher so genannt habe. Juristisch hängt das Urteil in der Berufung, politisch hängt es trotzdem über ihm – wie ein Schild: „Kann jederzeit aktiviert werden“.
Dann das Diplom-Verfahren, der Klassiker: Am 18. März 2025, einen Tag vor der Verhaftung, annulliert die Universität Istanbul seinen Abschluss. Begründung: Transfer 1990 von der Amerikanischen Universität Girne nach Istanbul sei unrechtmäßig gewesen, YÖK habe die Uni damals nicht anerkannt. Die Verteidigung sagt: Damals gelten andere Regeln, 1991 erkenne YÖK sogar ein Diplom derselben Uni an, und nach 31 Jahren rückwirkend umzudeuten verletzt Rechtssicherheit. Seit September 2025 läuft der Prozess wegen angeblicher Urkundenfälschung, Strafrahmen 2 Jahre 6 Monate bis 8 Jahre 9 Monate, nächste Verhandlung am 16. Februar 2026. Politisch ist die Logik simpel: Wer verurteilt wird, fällt als Präsidentschaftskandidat aus – weil Kandidaten einen Hochschulabschluss brauchen. In der Türkei entscheidet also nicht nur das Volk, sondern auch die Verwaltungsversion der Vergangenheit.
Und weil es sonst zu übersichtlich wäre, kommt im Juli 2025 noch eine Verurteilung wegen Beleidigung und Bedrohung eines Amtsträgers dazu: 1 Jahr und 8 Monate. Hintergrund sind Aussagen über den Istanbuler Oberstaatsanwalt Akın Gürlek, dessen Verstand İmamoğlu als „verrottet“ bezeichnet. Vom Vorwurf, den Staatsanwalt gezielt zur Zielscheibe gemacht zu haben, wird er zwar freigesprochen – aber das Urteil ist nicht rechtskräftig. Zusätzlich laufen Ermittlungen wegen angeblicher PKK-Unterstützung im Kontext politischer Kooperationen rund um die Kommunalwahlen 2024. Man will ja nicht, dass es am Ende nur ein Verfahren ist – das könnte noch wie Zufall wirken.
Am Schluss bleibt ein System aus Akten, Zahlen, Nebenverfahren und Verschiebungen. Der Witz daran ist bitter: Die spektakulärste Strafe steht nicht im Urteilsspruch. Sie steht im Kalender.