Die „Stabilität“ des Kapitals und der Aufstieg des Faschismus

Globales Schweigen und die Notwendigkeit des vereinten Widerstands

von Can Taylan Tapar
Merz und Erdogan

Die „Spionage“-Ermittlungen gegen Ekrem İmamoğlu sind eines der aktuellsten und dreistesten Beispiele dafür, wie das Recht in der Türkei zu einem Instrument politischer Säuberungen instrumentalisiert wird. Dieser Vorfall ist nicht nur der Versuch, einen politischen Gegner einzuschüchtern, sondern auch eine Drohung an die gesamte gesellschaftliche Opposition. Während fortschrittliche und demokratische Kreise diese faschistoide Entwicklung mit Entsetzen beobachten, stellen sie zu Recht die Frage: Warum sind die Reaktionen aus den westlichen Hauptstädten so verhalten, während Demokratie, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei derart massiv angegriffen werden?

Dieses Schweigen jedoch mit moralischen Kategorien wie „Heuchelei“ oder einer „Abkehr von Werten“ zu erklären, verhindert den Blick auf das Gesamtbild. Aus einer klassenanalytischen Perspektive handelt es sich hierbei nicht um eine „Abweichung“, sondern im Gegenteil um die rücksichtslose Konsequenz, mit der das globale kapitalistische System seine eigenen Interessen verfolgt. Das Schweigen des Westens mag ein Verrat am demokratischen Kampf des türkischen Volkes sein; es ist jedoch ein Ausdruck absoluter Loyalität gegenüber den Interessen der eigenen Kapitalistenklassen.

Die materiellen Realitäten hinter dem Schweigen: Das Ende des „Werte“-Diskurses

Der nach dem Kalten Krieg propagierte Diskurs über „liberale Demokratie“ und „Menschenrechte“ hat spätestens mit der Strukturkrise des globalen Kapitalismus im Jahr 2008 bewiesen, dass er nicht mehr als eine ideologische Maske war. Heute wird die Außenpolitik des Westens (d. h. der imperialistischen Kernländer) nicht von „Werten“, sondern von zwei fundamentalen materiellen Realitäten bestimmt: geopolitischen Zwängen und den unantastbaren Interessen des Kapitals.

Insbesondere zwei Entwicklungen haben die europäische Außenpolitik grundlegend verändert und „Soft Power“-Elemente in den Hintergrund gedrängt: Donald Trumps „America First“-Politik, die das transatlantische Bündnis in Frage stellte, und Russlands Invasion in der Ukraine. Diese Ereignisse versetzten Europas Sicherheitsreflexe in Panik und verschoben den Fokus der Politik von einer „wertebasierten“ zu einer „sicherheitsbasierten“ Achse. In dieser neuen Konstellation wurde die Rolle der Türkei neu definiert:

  1. Geopolitische Interessen (Imperialistische Konkurrenz): Inmitten des Ukraine-Krieges und der eskalierenden Rivalität zwischen den USA und China ist die Rolle der Türkei als „Gendarm“ an der Südostflanke der NATO weitaus wichtiger geworden als die Frage, ob sie „demokratisch“ ist.

  2. Interessen des Kapitals: Für das europäische (insbesondere das deutsche) Kapital ist die Türkei sowohl ein Reservoir für billige Arbeitskräfte als auch ein profitabler Markt. Das „Stabilitätsversprechen“ der gegenwärtigen Regierung, das Gewerkschaften entmachtet, Streiks verbietet und die Arbeit brutal ausbeutet, ist für das internationale Kapital weitaus verbindlicher als die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Solange die Türkei als „Pufferzone“ fungiert, die Flüchtlinge im Namen der europäischen Bourgeoisie aufhält, werden die innerstaatlichen Rechtsverstöße als „übersehbarer“ Kollateralschaden akzeptiert.

Die Folgen des Pragmatismus: Ein Nährboden für den Faschismus

Dieser Pragmatismus des globalen Systems duldet nicht nur die autoritäre Entwicklung des türkischen Regimes, sondern bereitet ihr aktiv den Boden. Die stillschweigende Zustimmung des Westens im Namen der „Stabilität“ (d.h. der Stabilität des Kapitals) gibt der Regierung in Ankara grünes Licht, jede oppositionelle Stimme im Land – seien es Journalisten, Aktivisten, Politiker oder Akademiker – zu unterdrücken. Der Fall İmamoğlu, die Geiselnahme von Osman Kavala und Selahattin Demirtaş oder der Gezi-Prozess sind allesamt Schritte, die mit der durch dieses globale Gleichgewicht ermöglichten Dreistigkeit unternommen werden.

Die konkreten Auswirkungen sind schmerzhaft:

  • Der Europarat, dessen Gründungsmitglied die Türkei ist, ist außerstande, die Einhaltung der verbindlichen Urteile seines eigenen Gerichtshofs, des EGMR, durchzusetzen.

  • Die jährlichen Türkei-Berichte der EU-Kommission haben sich in eine Liste von Rechtsverstößen verwandelt, geschmückt mit der Floskel „tiefer Besorgnis“, unmittelbar gefolgt von der Freigabe neuer Finanzmittel für die Flüchtlingsversorgung.

  • Das Desinteresse westlicher Medien verstärkt die internationale Unsichtbarkeit der Repression in der Türkei.

Die Rechtswidrigkeit und die faschistoiden Praktiken, mit denen wir konfrontiert sind, sind daher nicht nur eine „innere Angelegenheit“, sondern Teil und Ergebnis der globalen kapitalistischen Ordnung.

Ein globaler Trend: Die Normalisierung des Autoritarismus

Die Entwicklungen in der Türkei sind Teil eines globalen Trends. Die „globale autoritäre Welle“, verkörpert durch Figuren wie Orbán in Ungarn, Modi in Indien, Putin in Russland und Trump in den USA, höhlt demokratische Institutionen durch den Einsatz von Populismus, nationalen Sicherheitsnarrativen und Desinformation von innen aus.

Fazit: Die Lösung liegt weder im Ausland noch im Palast, sondern im vereinten Kampf

Dieses Bild erklärt, warum der Kampf für Demokratie in der Türkei so einsam und schwierig ist. Einen Retter aus Brüssel, Berlin oder Washington zu erwarten, ist eine Illusion, denn deren Prioritäten sind ihre eigenen geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen.

Die Lösung lässt sich auch nicht auf einen Machtwechsel zwischen verschiedenen Fraktionen des türkischen Kapitals reduzieren. Denn beide Flügel sind letztlich gezwungen, sich in dieses globale Wirtschafts- und Militärsystem (NATO, freier Markt) zu integrieren.

Die vordringliche und konkrete Aufgabe heute ist es, Widerstand gegen die Institutionalisierung des Faschismus und die vollständige Zerstörung des Rechts zu leisten. Dieser Angriff richtet sich nicht nur gegen eine bestimmte politische Gruppe, sondern zielt auf alle, die Demokratie fordern – von Liberalen bis zu Konservativen, von Gewerkschaften bis zu zivilgesellschaftlichen Organisationen. Der Ausweg liegt daher nicht in engstirnigen politischen Zielen, sondern in der Formierung einer breiten gesellschaftlichen Widerstandsfront, in der sich Zivilgesellschaft, Berufsverbände, Gewerkschaften und alle demokratischen politischen Kräfte gemeinsam gegen die Rechtslosigkeit stellen.

Das entbindet die Kräfte der Arbeit und der Demokratie im Westen jedoch nicht von ihrer historischen Verantwortung. Ihre Aufgabe ist es, sowohl der Komplizenschaft ihrer Regierungen mit einem Regime in der Türkei als auch der gleichzeitigen Beschneidung der Rechte arbeitender Menschen im eigenen Land entgegenzutreten. Das Schicksal der Türkei darf weder dem Pragmatismus der imperialistischen Hauptstädte noch der Willkür lokaler Despoten überlassen werden. Die Lösung liegt im Inneren, in einer vereinten demokratischen Front, die alle Farben des gesellschaftlichen Kampfes umfasst, und in ihrer internationalen Solidarität.

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