Als ich lernte, meine Stimme zu erheben

von Fremdeninfo

Von  Ayşegül Görgülü

Ich habe das Interview mit Dilan Düzgün gelesen.
Sie hat sehr gehaltvolle und wahre Dinge gesagt, und es ist unmöglich, ihr nicht zuzustimmen. Ich möchte ihr an dieser Stelle herzlich gratulieren.

Das Alevitentum, das Dilan beschreibt, habe ich ebenfalls bis ins Mark erlebt. Jahrelang konnte ich nicht sagen, dass ich Alevitin bin. Denn es gab eine Herabwürdigung und Anschuldigungen gegenüber Aleviten, und es wurde gesagt, sie seien keine Muslime. Wenn uns in der Schule erniedrigende Worte direkt ins Gesicht gesagt wurden, konnten wir unsere Stimme nicht erheben.

Sie sagten, Aleviten würden nicht in Moscheen gehen, nicht fasten und nicht pilgern. So wie wir uns niemals ausdrücken konnten, konnten wir auch zu keiner Zeit unsere Stimme erheben. Die ständige Demütigung in der Gesellschaft akzeptierte ich, als sei ich eine Schuldige und als wäre es mein Schicksal. Uns wurde erzählt, das Sunnitentum sei eine sehr fortschrittliche Religion, die für die gesamte Menschheit Gültigkeit besitze.

Als ich älter wurde, schloss ich mich der linken Bewegung an. Die linke Bewegung war dem Alevitentum gegenüber sensibler und sprach davon, dass Aleviten unterdrückt und verachtet wurden. Als ich mich in der linken Bewegung wiederfand, fühlte ich mich wie neugeboren.

Je mehr ich über das Alevitentum las, desto mehr lernte ich, was für ein menschenfreundlicher und humanistischer Glaube es ist. Als ich sah, wie manche sunnitische Gläubige im Namen der Religion Köpfe abschnitten, empfand ich Hass. Als ich weiter in die Geschichte zurückging, erfuhr ich, dass Yazid und Muawiya die Köpfe von Imam Hussein und seinen Gefährten abschnitten.

Im Laufe der Geschichte waren alevitische Gläubige Massakern ausgesetzt; sie wurden zu jeder Zeit erniedrigt, verachtet und genossen in der Gesellschaft kein Ansehen. Mit zunehmendem Alter lernte ich linke Theorien kennen und begann so, mich in der Gesellschaft bewusster zu bewegen. Ich betrachtete es als meine Verantwortung, gegen jede Form des Unrechts zu kämpfen, das der alevitischen Gemeinschaft angetan wurde.

Als es 1978 in Maraş und danach in Malatya und Çorum zu Massakern an Aleviten kam, nahm ich aktiv an den Protesten teil und rief laut, dass diese Massaker Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind. Es ist gewiss, dass diese menschenfeindlichen Angriffe das Ergebnis einer historischen Geisteshaltung sind und auch heute noch andauern.

Der grausame Mord an 35 alevitischen Intellektuellen, die 1993 im Madımak-Hotel in Sivas verbrannt wurden, war in der Türkei der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Es wäre nicht falsch zu sagen, dass es auch heute noch ein verstecktes Vorurteil gegenüber Aleviten gibt. So wie die Aleviten im Laufe der Geschichte gegen Massaker und Verachtung Widerstand geleistet haben, so müssen sie auch heute Widerstand leisten und sich dieser Situation organisiert entgegenstellen.

Ähnliche Beiträge