Der türkische Präsident Erdoğan versucht die Opposition gegeneinander auszuspielen, um langfristig seine Macht zu sichern. Doch Frieden ist nicht teilbar.
Recep Tayyip Erdoğan schillert gern in vielen Farben. Einerseits reißen die türkischen Justizbehörden im Kampf gegen die Opposition gerade die Reste des Rechtsstaats ab. Andererseits hat sich Erdoğans Regierung auf einen bemerkenswerten Versöhnungsprozess mit anderen Teilen der Opposition eingelassen. Wie passt das zusammen?
In dieser Woche hat die türkische Staatsanwaltschaft von Herrschers Gnaden eine neue Anklageschrift gegen den Istanbuler Bürgermeister eingereicht. Darin fordern die Ermittler mehr als 2.000 Jahre Gefängnis für Ekrem İmamoğlu der in Silivri bei Istanbul im Gefängnis sitzt. Die Begründungen reichen von Amtsmissbrauch bis Korruption, der tatsächliche Grund liegt darin, dass İmamoğlu superpopulär ist und Recep Tayyip Erdoğan in Präsidentschaftswahlen sehr wahrscheinlich schlagen würde.
Schon bei der Wahl 2023 wurde Imamoğlu durch frisierte Verfahren von der Kandidatur abgehalten. Nun soll er sicherheitshalber für die nächsten 2.000 Jahre aus dem Feld geräumt werden. Man weiß ja nicht, wie lange Erdoğan noch Präsident sein möchte.
Erdoğan lässt CHP-Bürgermeister absetzen
Das Projekt Selbstverewigung treibt den Herrscher Erdoğan schon lange um. Seit geraumer Weile lässt er Bürgermeister der oppositionellen CHP absetzen, die bei den Kommunalwahlen 2024 überwältigend die Rathäuser gewonnen hatten. Diese Siege konnte er nicht tatenlos mit ansehen. Ganze Stadtverwaltungen werden derzeit gesäubert, viele CHP-Politiker, Wahlsieger und ihre Mitarbeiter sitzen im Gefängnis.
Auf der Suche nach neuen Verbündeten nebst Islamisten und Nationalisten ist Erdoğan auf die kurdische Bewegung verfallen – ausgerechnet. Natürlich halten die Kurden Distanz. Aber immerhin läuft seit etwa einem Jahr ein eigenwilliger Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung, der prokurdischen DEM-Partei, der militanten PKK und dem inhaftierten PKK-Gründungschef Abdullah Öcalan.
Mehrere DEM-Delegationen besuchten Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali. Der große Vorsitzende rief die PKK im Februar zum Niederlegen der Waffen auf. Im Mai erklärte die PKK das Ende ihres militärischen und politischen Kampfes gegen die Türkei. Ende Oktober kündigte sie dann den vollständigen Rückzug aller bewaffneten Einheiten an. Die meisten von ihnen werden wohl in den Nordirak gehen.
Manche schimpfen über kurdische „Kuschelei“
Viele Kurden warten im Gegenzug auf Zugeständnisse der türkischen Regierung und auf ein Ende des Drucks, den die türkische Armee, Polizei und die Geheimdienste auf die kurdische Bevölkerung und ihre Repräsentanten ausüben. Auch die Kurden haben die Absetzung der von ihnen gewählten Bürgermeister im Südosten der Türkei vielfach erlebt. Erhoffen sie sich wirklich, dass sie mit dem autoritären Regime einen haltbaren Kompromiss aushandeln können?
In Ankara traf ich vor Kurzem den DEM-Politiker Mithat Sancar, der seit Juni Mitglied der Delegation ist, die regelmäßig Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali besucht. „Die Imrali-Gespräche kehren die bisherigen Versöhnungsprozesse um“, sagt er. Im Gegensatz zu früheren Versuchen stehe „hier die Entscheidung für die Auflösung der bewaffneten Organisation und Niederlegung der Waffen an erster Stelle“. Öcalan sei offiziell als Hauptakteur anerkannt.
Was jetzt? – Der tägliche Morgenüberblick
Starten Sie mit unserem kurzen Nachrichten-Newsletter in den Tag. Erhalten Sie zudem freitags den US-Sonderletter „Was jetzt, America?“ sowie das digitale Magazin ZEIT am Wochenende.
Doch viele fragen, was das den Kurden am Ende bringt, wenn sie nichts Greifbares von der türkischen Regierung bekommen. Sancar sagt, noch würden die rechtlichen Grundlagen fehlen, damit der Entwaffnungsprozess der PKK weitergehen kann: „Demilitarisierung, Demobilisierung und Reintegration. Da sind noch keine konkreten Schritte gemacht worden.“
Immerhin 70 Prozent der türkischen Bevölkerung unterstützen den Friedensprozess, aber das Vertrauen in die Aufrichtigkeit der türkischen Regierung ist eher gering. Kein Wunder, wenn man auf die Verhaftungen der Bürgermeister und CHP-Politiker schaut. In der säkular-kemalistischen Partei wundern sich ohnehin viele über die Annäherungsübungen an die Regierung. Manche schimpfen über die kurdische „Kuschelei“.
„Frieden und Demokratie nicht gegeneinander ausspielen“
Sancar weist das zurück und sagt: „Die DEM-Partei ist mit der CHP solidarisch und kritisiert das Verhalten der Regierung.“ Es wäre falsch und geradezu ungerecht, ausgerechnet der DEM zu unterstellen, dass sie sich nicht mehr für Demokratie einsetze. „Man darf die Ziele Frieden und Demokratie nicht gegeneinander ausspielen. Eine solche Haltung wird beide Ziele gefährden.“
Es könnte allerdings sein, dass Erdoğans Pläne in diese Richtung gehen: den Friedenswunsch der kurdischen Bevölkerung zu nutzen, während die CHP ihres Wahlsiegs bei den Kommunalwahlen 2024 beraubt wird. Erdoğan ködert die einen und straft die anderen. Alles ist dem festen Ziel untergeordnet, seine Präsidentschaft über das in der Verfassung vorgesehene Ende 2028 hinaus zu verlängern.
Entweder durch eine Verfassungsänderung oder die geschmeidige Interpretation des Verfassungsrechts. Dazu könnte er im Parlament unter bestimmten Umständen die Stimmen der prokurdischen Abgeordneten gut gebrauchen. Und hofft, gleichzeitig noch als Friedensheld in die Geschichtsbücher einzugehen.
Ob Erdoğans Plan aufgeht, hängt deshalb sehr davon ab, ob er die prokurdische DEM-Partei und die CHP wirklich gegeneinander ausspielen kann. Die Oppositionsparteien wissen um diese Manipulationsgefahr und vor allem, dass die Türkei nicht zur Ruhe kommen wird, wenn die einen am Verhandlungstisch sitzen und die anderen im Knast. Frieden ist, anders als Erdoğan meint, nicht teilbar.