Mit großer Trauer habe ich erfahren, dass wir unseren Professor, Mete Tuncay, verloren haben. Er war unser wahrer „Hodscha“ (Lehrer/Meister). Seine Bücher „Die Errichtung der Einparteienherrschaft in der Republik Türkei 1923–1931“ und „Linke Strömungen in der Türkei 1908–1925“ standen stets griffbereit in unseren Regalen.
Er war der Professor, der die offizielle türkische Geschichtsschreibung und unsere kemalistischen Gewissheiten erschütterte. Wir haben so unendlich viel von ihm gelernt…
Ich lernte ihn 1994 persönlich kennen, als ich nach siebzehn Jahren im Exil in die Türkei zurückkehrte. Damals gab er die Zeitschrift „Tarih ve Toplum“ (Geschichte und Gesellschaft) heraus. Als ich ihm sagte, dass ich zur „Armenierfrage“ arbeite, sagte er zu mir: „Arbeite nicht daran, lass es sein. Du kannst es niemandem recht machen; du wirst zwischen allen Stühlen sitzen.“ Er war der Überzeugung, dass die politische Spannung um das Thema ein ernsthaftes Hindernis für eine objektive akademische Arbeit darstellte.
Ich hatte ihn auch zu der Konferenz eingeladen, die wir 2004 in Minnesota im Rahmen des „Workshops für armenische und türkische Akademiker“ organisierten. Aus unseren Gesprächen dort erfuhr ich, dass Professor Mete eigentlich der Idee der „Mukatele“ (gegenseitige Massaker) sehr nahestand [der These „Sie haben zugeschlagen, und wir haben auch zugeschlagen“, die Ziya Gökalp zugeschrieben wird, von der wir aber wissen, dass er sie so nicht geäußert hat]. Ich bewahre den Vortrag, den er auf der Konferenz in Minnesota hielt, immer noch auf. Ich frage mich, ob er ihn wohl irgendwo veröffentlicht hat? Auch dort lehnte er die Verwendung des Wortes Völkermord ab: „Ich halte es nicht für richtig, das Wort Völkermord für die Massaker an den Armeniern zu verwenden“, sagte er.
Zudem machte er einen akademischen Vorschlag, der seinem Rat an mich von 1994, „Beschäftige dich nicht damit“, ähnelte: „Wenn ich berücksichtige, was bisher zu diesem Thema geschrieben wurde, glaube ich nicht, dass es im Moment möglich ist, eine objektive und unparteiische Studie durchzuführen. Daher schlage ich vor, das Urteil aufzuschieben, bis die Bedingungen dafür reif sind.“
Ich fürchte, dass die Wiedergabe dieser Zeilen in den Augen derer, die Professor Mete nicht kannten, ein falsches Bild von ihm erzeugen könnte. Deshalb muss ich hinzufügen: Er kannte die Massaker an den Armeniern an, verurteilte sie und bezog eine sehr klare Haltung gegen die Leugnung.
Den Grund dafür, dass die armenischen Massaker zu einem unaussprechlichen Tabu wurden, sah er in der Tatsache, dass der armenische Reichtum geplündert worden war.
Zusammenfassend möchte ich unterstreichen: Er war der Mensch, der unsere Vorstellungen von der frühen Republikzeit geprägt hat. Es obliegt uns, das zu vollenden, was bei ihm unvollendet blieb. Er war der Doyen einer Ära. Mit ihm ging auch eine Ära zu Ende. Möge er in Frieden ruhen
Von: Taner Akçam