Von Bülent Mumay / H.A.Z
Der türkische Präsident höhlt die Oppositionspartei CHP aus. An deren Spitze lässt er eine Marionette einsetzen. Wie es aussieht, ist das der Abschied vom Mehrparteiensystem.In meinem Brief vom 14. August hatte ich Sie gewarnt: Wenn Sie auf dem Flughafen Istanbul landen, könnte es sein, dass die eSIM-Karte, die Sie auf Ihr Smartphone geladen haben, um den Roaminggebühren zu entgehen, wegen einer Sperre von Regierungsseite nicht funktioniert. Hier geht es mit Warnungen gleich weiter: Einmal angenommen, Sie nehmen das Risiko einer exorbitanten Telefonrechnung in Kauf und wollen Ihre eigene SIM-Karte benutzen. Während Sie auf Ihr Gepäck warten, gehen Sie online, um Nachrichten und Mails abzurufen, die eingegangen sind, während Sie im Flugzeug saßen, oder um etwas auf Youtube zu schauen. Doch keine der entsprechenden Apps aktualisiert. Mühen Sie sich gar nicht erst mit den Einstellungen ab, vermutlich liegt keine technische Ursache vor, sondern eine politische.
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Denn hierzulande gehen außerordentliche Dinge vor sich. Glauben Sie nicht, Sie seien mit dem Einpacken jahreszeitgemäßer Kleidung gut auf die Türkei vorbereitet. Laden Sie unbedingt vor dem Abflug die App eines VPN-Anbieters auf Ihr Handy, und öffnen Sie diese gleich nach der Ankunft, um VPN nutzen zu können. Wie auch ich gezwungen bin, beim Verfassen dieses Textes eine solche verschlüsselte Verbindung zu verwenden.
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Vor jedem antidemokratischen Schritt und bei jeder durch ihre Fahrlässigkeit ausgelösten Katastrophe schränkt die Erdoğan-Regierung die Internetbandbreite ein. Um den Nachrichtenfluss zu behindern, blockiert sie die digitale Welt. Weder Whatsapp noch die Plattform X funktionieren. Auch Youtube ist nicht mehr erreichbar. So geschehen, als die Polizei mit 5000 Mann und Tränengas vor ein paar Tagen in die Istanbuler Zentrale der größten Oppositionspartei CHP eindrang. Doch wozu diese massive Operation gegen die CHP, die bei den Kommunalwahlen 2024 erstmals nach 22 Jahren die Regierungspartei auf den zweiten Platz verwiesen hat? In der Frage liegt die Antwort: Nachdem Staatspräsident Erdoğan erkannt hatte, dass Ekrem İmamoğlu ihn bei der nächsten Wahl höchstwahrscheinlich aus dem Palast verdränge, ließ er am 19. März zunächst den Istanbuler Oberbürgermeister wegen des Vorwurfs der Korruption ins Gefängnis werfen. Doch dieser Coup verstärkte die Unterstützung für die CHP und ihren Präsidentschaftskandidaten, statt sie zu schwächen. Gleichwohl gelang es Erdoğan, seinen Widersacher vor der Wahl 2028 als Bewerber für die Präsidentschaft zu disqualifizieren, indem er İmamoğlu inhaftieren ließ, nur einen Tag nachdem dessen Universitätsdiplom, das Voraussetzung für die Kandidatur ist, annulliert worden war.
Ein weiterer riskanter Schritt
Dennoch wuchs der Zuspruch für die CHP weiter. Bald war klar, dass jedweder Ersatzkandidat für İmamoğlu das Palastregime stürzen könnte. Also begann Phase zwei: die Zerschlagung der CHP. Schritte wurden eingeleitet, um den neuen CHP-Vorstand unter Özgür Özel abzusetzen, der die Partei neu aufgestellt hat. Nach fast zwei Jahren wurde ein Prozess angestrengt, um den Parteitag vom November 2023, bei dem Özel zum Vorsitzenden gewählt worden war, annullieren zu lassen. Am 2. September nun wurde der ebenfalls 2023 abgehaltene Istanbuler Regionalkongress der CHP annulliert, weil es bei der Abstimmung dort angeblich „Unregelmäßigkeiten“ gegeben habe. Das Gericht setzte als Vorsitzenden des Istanbuler Parteiverbands einen Mann aus dem Kreis der Gekränkten der Partei ein.
Als das Internet eingeschränkt wurde, war uns klar, dass man Vorbereitungen traf, den von den Delegierten auf dem Kongress gewählten Provinzvorsitzenden aus dem Gebäude zu holen. Zugleich rückten einige Tausend Polizisten auf die Istanbuler CHP-Zentrale vor. Zufahrtsstraßen wurden gesperrt, Zehntausende Bürger mit Polizeigewalt unter Einsatz von Tränengas daran gehindert, sich zur Unterstützung der Partei vor der Zentrale zu versammeln. Stattdessen brachte die Polizei die vom Gericht eingesetzte Vorsitzenden-Marionette in das Gebäude.
Das Regime unterdrückt die Medien und die Zivilgesellschaft und hat den aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten inhaftieren lassen, mit der Ausschaltung der institutionellen Opposition geht es noch einen riskanten Schritt weiter. Praktisch bedeutet er das Ende des Mehrparteiensystems, das 1946 auf Beschluss der damals allein herrschenden CHP eingeführt worden war. Erdoğan ebnet, genau wie es in Russland geschehen ist, mit der Schaffung einer Opposition, die er persönlich kontrolliert, deren Führung er selbst bestimmt und die ihm an der Wahlurne nicht gefährlich werden kann, den Weg in ein System, in dem Wahlen nur noch auf dem Papier stattfinden.
Einige Autostunden von Istanbul entfernt
Es wäre für mich riskant, auszusprechen, wie ein solches System zu nennen ist. Deshalb überlasse ich die Definition dem amerikanischen Türkeiexperten Howard Eissenstat, den die „Financial Times“ kürzlich zitierte. Er kommentiert die Umgestaltung der Opposition durch die Palastjustiz wie folgt: „Heute fällen türkische Gerichte Urteile, die das Land rasch von einem ‚Wahlautoritarismus‘ zu etwas hinbewegen, das eher einer unverhohlenen Diktatur gleicht. Es gibt zwar noch Wahlen, doch die letzten Reste eines politischen Wettbewerbs sind ausgelöscht.“
Das Palastregime verwandelt die Türkei nicht bloß vom Autoritarismus in das „Etwas“, das Eissenstat benennt. Es baut die Gesellschaft und das Bildungswesen nach islamischen Grundsätzen um. Ein Gymnasium, einige Autostunden von Istanbul entfernt, hat jetzt verboten, dass Mädchen und Jungen nebeneinander in den Schulbussen sitzen. In der Schulkantine dürfen sie nicht länger in derselben Schlange anstehen, beim Sportunterricht sind keine Leggings mehr zu tragen. Ein Arzt in einer anderen anatolischen Stadt, der für die Ehe ab 13 Jahren eintritt und Frauen aufgrund ihrer Kleidung schon mal als „Huren“ tituliert, weigerte sich jüngst, eine junge Frau zu untersuchen, die in Jeans und schwarzem Tanktop ins Krankenhaus kam, denn das sei „exhibitionistisch“. Und gegen die populäre Girlgroup „Manifest“ wird aufgrund der Kostüme bei ihrem Auftritt wegen „Anstößigkeit“ ermittelt.
Neuverschuldung in Milliardenhöhe
Gegen die Opposition geht die Regierung also wegen „Korruption“ vor, doch bei Skandalen, die sie selbst berühren, bleibt sie untätig. Anfang August hatte ich Ihnen geschrieben, dass die Türkei vor einem internationalen Schiedsgericht zur Zahlung von 1,5 Milliarden Dollar Strafe verurteilt wurde, weil ein lange von einem Erdoğan-Schwiegersohn geleitetes Unternehmen Erdöl ohne Genehmigung der Regierung in Bagdad aus der kurdischen Autonomieregion im Irak geholt und international vermarktet hatte. Der Skandal weitete sich aus. 1,5 Milliarden Dollar Gewinn der Firma, bei der staatliche Vermittlung im Spiel war, ging am Fiskus vorbei. Er ist gewissermaßen verdampft. Der Skandal ist belegt, doch Ermittlungen gibt es nicht. Ich will aber der Palastjustiz nicht Unrecht tun, manche Korruptionsfälle, in die die Regierung verwickelt war, greift sie auf – auf ihre Weise. So wurde ein Journalist inhaftiert, nachdem er darüber berichtet hatte, dass eine Gruppe Bürokraten in einer anatolischen Stadt von Geschäftsleuten Geld in Erdoğans Namen nahm.
Nicht nur Regierungsgegner zahlen dafür, dass in der Türkei der letzte Nagel in den Sarg der Demokratie geschlagen wird. Auch der Zustand der von der Regierung ruinierten Wirtschaft verschlechtert sich. So kam es nach der Annullierung des Istanbuler CHP-Kongresses zu Turbulenzen an den Märkten. Um zu verhindern, dass die Devisenkurse durch die Decke gingen, setzte die Regierung in zwei Nächten Devisenreserven von sieben Milliarden Dollar ein. Die jüngsten Beschlüsse der Wirtschaftsführung weisen darauf hin, dass man im Palast eine noch größere Operation vorhat. Der Fiskus wie auch der dem Palast unterstehende Vermögensfonds kündigten Ausschreibungen für eine Neuverschuldung in Milliardenhöhe an, um für Bargeld zu sorgen. Bekanntlich investieren Vermögensfonds, um ihr Vermögen zu vermehren. Bei uns hingegen nehmen sie zu hohen Zinsen Kredite gegen Hypotheken der wertvollsten Unternehmen der Türkei auf. Hoffentlich hat dieser Schritt nichts mit dem Verfahren zu tun, das zur Annullierung des CHP-Parteitags eingeleitet wurde. Denn sollte am 15. September auch CHP-Chef Özgür Özel des Amtes enthoben werden, verlieren wir mehr als das Finanzvermögen des Landes.