Von : Bülent Mumay © Emir Özmen/ Faz
Erdoğans schrittweise Umwandlung der Türkei in eine Autokratie seit den 2010er-Jahren lässt sich nicht allein mit inländischen Dynamiken erklären. Neben seinem machiavellistischen Politikverständnis und seinem Talent, Bündnisse in Blitzgeschwindigkeit zu schließen und ebenso rasch wieder aufzulösen, verfügt er über eine weitere, zweifellos ebenso zweckdienliche Fähigkeit, und zwar die, internationale Kräfteverhältnisse für die eigene Macht zu nutzen. Nach dem syrischen Bürgerkrieg fing er damit an, Europa mit einer Flüchtlingswelle zu drohen. Dann machte er sich die Spannungen zwischen dem Westen und Russland zunutze. Etliche Krisen im Umfeld der Türkei wie die in Syrien, Libyen, der Ukraine oder Bergkarabach nutzte er auf diese Weise zum eigenen Vorteil.
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Der Block des Westens hätte normalerweise verhindern können, dass Erdoğan ein autokratisches Regime errichtet. Doch Erdoğan nutzte die im Westen virulente Gefahr von rechts außen und die durch regionale Krisen ausgelöste Sorge um die Sicherheit für seine Zwecke und pflasterte nach und nach seinen Weg zur Autokratie. Als Trump seine zweite Amtszeit antrat, erweiterte sich sein Spielraum noch. Dass die Demokratie weltweit auf dem Rückzug war und der Westen sich aus eigenen regionalen Interessen nicht einmischte, kam Erdoğan höchst gelegen, so konnte er alles daransetzen, sich im Präsidentenpalast zu halten, obwohl die Unterstützung für ihn im Inland einbrach. Im ausgehenden Jahr 2025 setzte Erdoğan so dreiste und maßlose Schritte wie nie zuvor. So ließ er das vor 35 Jahren erworbene Universitätsdiplom von Ekrem İmamoğlu, dem Präsidentschaftskandidaten der Opposition, der ihn an der Wahlurne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit besiegt hätte, annullieren und am Tag darauf ihn selbst aufgrund von Korruptionsvorwürfen verhaften.
Erdoğan hat es sich zum Grundsatz gemacht, weniger auf den eigenen Sieg zu setzen. als vielmehr dafür zu sorgen, dass sein Kontrahent verliert. Nachdem er İmamoğlu nun hinter Gitter gebracht hat, geht es ihm darum, für die turnusgemäß 2028 stattfindenden Wahlen, die er kaum wird gewinnen können, seinen Herausforderer selbst zu bestimmen. Gleichzeitig versucht er, die kurdische Wählerschaft, die bei den letzten Präsidentschaftswahlen seinen Konkurrenten unterstützt hatte, aus dem Bündnis der Opposition herauszulösen. Um die Kurden zu ködern, nahm er Friedensverhandlungen mit dem Chef der Terrororganisation PKK, Abdullah Öcalan, auf, der in Isolationshaft auf einer Insel eine lebenslange Freiheitsstrafe absitzt. Doch all diese Maßnahmen konnten die anhaltende Unterstützung für İmamoğlu nicht brechen. Im Gegenteil, İmamoğlu und seine CHP liegen in Umfragen mittlerweile deutlich vorn.
Erdoğan erhöht nun den Einsatz noch einmal
Vor diesem Hintergrund erhöht Erdoğan nun den Einsatz noch einmal. Für PKK-Terroristen will er eine Amnestie auflegen, den Politiker aber, dessen einziges Vergehen darin besteht, nach der Macht gestrebt zu haben, hinter Gefängnismauern begraben. Mittlerweile laufen etliche Verfahren gegen İmamoğlu. Das größte betrifft den Vorwurf der Korruption während seiner Amtszeit als Oberbürgermeister von Istanbul. Die rund viertausendseitige Anklageschrift führt Hunderte Angeklagte auf und stützt sich auf Aussagen geheimer Zeugen, die Staatsanwaltschaft fordert darin 2352 Jahre Haft für İmamoğlu. Warum die Anklageschrift derart umfangreich ausgefallen ist, lässt sich ahnen. „Das Verfahren wird zwölfeinhalb Jahre dauern“, lautet ein kürzlich veröffentlichtes Statement aus der Justiz und macht damit deutlich, worum es Erdoğan eigentlich geht.
Erdoğan weiß ebenso gut wie die von ihm politisierte Justiz, dass der Prozess ohne Verurteilung ausgehen wird. Selbst die geheimen Zeugen tragen den Prozess nicht mehr mit. Die Angeklagten aber bleiben in Untersuchungshaft, um eine politische Gefahr für Erdoğan aus dem Weg zu räumen. Es geht nicht allein darum, İmamoğlu im Gefängnis festzuhalten, sein Fall soll vor allem auch andere potentielle Kandidaten abschrecken.
Richter und Staatsanwälte, die bereits vor Erdoğans Regierungsübernahme im Amt waren und in anderen Verfahren gegen İmamoğlu faire Urteile fällten, werden sogleich abgestraft. So wurden Justizangehörige, die Mitangeklagte auf freien Fuß setzten und İmamoğlu freisprachen, abgesetzt und auf entlegene Posten in Anatolien verbannt. Sie werden durch Richter und Staatsanwälte ersetzt, die der Palast eingestellt hat.
All diesen Einschüchterungsmaßnahmen zum Trotz erging kürzlich ein überraschendes Urteil. Nach İmamoğlus Verhaftung am 19. März hatte die Präfektur von Istanbul öffentliche Kundgebungen untersagt. Aufgrund des Verbots wurden sämtliche Proteste mit unverhältnismäßiger Polizeigewalt niedergeschlagen. Bei Demonstrationen, an denen dennoch Hunderttausende teilnahmen, gab es nahezu 1500 Festnahmen. Jetzt urteilte das Gericht, das Verbot der Präfektur sei nicht verhältnismäßig gewesen, habe nicht das Wohl der Öffentlichkeit im Blick gehabt und der demokratischen Gesellschaftsordnung widersprochen. Wir ahnen, was den Richtern, die zu diesem Urteil kamen, nun droht, Sie werden es voraussichtlich in künftigen Briefen von mir erfahren.
Anwälte nutzen ihre Chance
Im Augenblick ist nicht bloß Erdoğan Nutznießer der Anti-İmamoğlu-Operationen. Regierungsnahe Rechtsanwälte münzen die Krise in eine Chance um und melden sich bei Inhaftierten, die im Zuge der İmamoğlu-Verfahren mitangeklagt sind. Jüngst machte ein Geschäftsmann unter ihnen öffentlich, dass der Anwalt Mücahit Birinci, ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Regierungspartei AKP, ihm versprochen habe, ihn gegen Zahlung von zwei Millionen Dollar aus der Untersuchungshaft zu holen. Er brauche lediglich eine entsprechende Vereinbarung zu unterzeichnen. Was ein anderer mitangeklagter Unternehmer kürzlich vorbrachte, klingt noch befremdlicher. Er reichte dem Gericht eine Beschwerde ein, weil er von einem Anwalt betrogen worden sei, der ihn gedrängt habe, als Kronzeuge auszusagen. Wie verlangt habe er sechs einzelne Eingaben mit Anschuldigungen gegen İmamoğlu gemacht und dem Anwalt acht Millionen Dollar überwiesen. Dennoch sei er nicht freigekommen, klagt er nun.
Wo die Rede gerade von dem „System“ ist, das regierungsnahe Anwälte errichtet haben, muss ich noch einige Anschuldigungen referieren, die Oppositionsführerin CHP vor ein paar Tagen der Justiz vorlegte. Ohne Kommentar, damit ich deshalb nicht in Teufels Küche gerate. Vom Istanbuler Oberstaatsanwalt Akın Gürlek, dem Architekten der Operationen gegen İmamoğlu, hatte ich Ihnen bereits berichtet und auch erwähnt, dass er für seine Dienste gegen Erdoğans Kontrahenten mit einer Luxusvilla am Bosporus und einem zweiten Gehalt von der in Luxemburg ansässigen Filiale eines staatlichen türkischen Unternehmens belohnt worden war. Laut Unterlagen, die die CHP jetzt dem Gericht vorlegte, besitzt der Oberstaatsanwalt darüber hinaus ein Bankschließfach, das er in seiner Vermögenserklärung nicht angegeben hat. Und er soll ein Appartement mit einem Marktwert von 600.000 Euro für lediglich 200.000 Euro erworben haben. Das Haus mit dieser Wohnung wurde von einem in der İmamoğlu-Anklageschrift genannten Unternehmen erbaut, reiner Zufall natürlich. Darüber hinaus soll der 43-jährige Gürlek, der offiziell lediglich sein Gehalt als Staatsanwalt hat, vor einigen Monaten einen Vorvertrag für den Kauf eines weiteren Luxusappartements im Wert von rund zwei Millionen Euro unterzeichnet haben.
Die CHP hat der Justiz Beweise für diese Anschuldigungen vorgelegt und verlangt, dass der Oberstaatsanwalt wegen Korruption und unrechtmäßiger Aneignung angeklagt wird. Welch eine naive Erwartung, nicht wahr? Genau wie all die Erwartungen, die die Menschen hierzulande beim letzten Jahreswechsel an das Jahr 2025 hatten. Heute sind wir weder wohlhabender noch freier. Im Gegenteil, jeden Tag werden wir ärmer und stärker eingeschränkt.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt, oder wie das Sprichwort auf Türkisch lautet: „Hoffnung ist das Brot der Armen.“ Nur daran können wir uns 2026 halten. Mit besten Wünschen für das neue Jahr!
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.