Das Regime der justiziellen Vernichtung: Neue Angriffe im Schatten der globalen Krise

von Can Taylan Tapar

Die Geschwindigkeit und Härte, mit der das Erdoğan-Regime in den letzten Tagen oppositionelle Stimmen mithilfe der Justiz zerschlägt, überraschen nicht mehr – doch sie schüren die Wut. Dieser autoritäre Sprung ist kein zufälliger Wutausbruch, sondern die neue und härteste Phase der faschistoiden Institutionalisierung des Regimes.

Der Griff der Justiz und zum Schweigen gebrachte Journalisten

Die Ereignisse der letzten zehn Tage sind der Beweis dafür, dass die Pressefreiheit systematisch „vernichtet“ werden soll. Die Chronologie deutet auf ein beängstigendes Tempo hin:

  • 11. Dezember: Der Journalist Enver Aysever wurde aufgrund einer Kritik am „Rechtsextremismus“ und seiner soziologischen Feststellungen in einem Interview verhaftet. Die zugrundeliegende Logik brandmarkt säkulare Kritik als „Aufstachelung des Volkes zu Hass und Feindschaft“. Indem Aysever auf die Rolle des Rechtsextremismus bei der gesellschaftlichen Zersetzung hinwies, rührte er an das ideologische Schutzschild des Regimes.

  • 19. Dezember: Der Journalist Levent Gültekin wurde unter dem Vorwand der „Desinformation“ festgenommen. Damit hat das Regime erneut deklariert, dass es kritische Kommentare als „Fake News“ etikettiert und die Zensur faktisch legalisiert hat.

  • 20. Dezember: Ironischerweise wurde auch der AKP-nahe Journalist Zihni Çakır verhaftet. Dies zeigt, dass das Regime selbst „Abweichungen“ in den eigenen Reihen nicht mehr toleriert, der Loyalitätstest verschärft wurde und das System begonnen hat, seine eigenen Anhänger zu fressen.

Fügt man diesem Bild den wegen Spionagevorwürfen inhaftierten Merdan Yanardağ, den zu 4 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilten und weiterhin inhaftierten Fatih Altaylı sowie die Operationen gegen Şaban Sevinç und Yavuz Oğhan hinzu, wird das Panorama klarer. Laut dem Bericht von Reporter ohne Grenzen (RSF) vom Dezember 2025 wurden in der Türkei im letzten Jahr 20 Verhaftungen, drei Hausarrest-Anordnungen und Dutzende gerichtliche Kontrollmaßnahmen gegen Journalisten verhängt. Unser Land stellt einen erheblichen Teil der weltweit inhaftierten Journalisten.

Das Erdoğan-Regime ist ein Klassenprojekt

Betrachtet man die Situation im Lichte des historischen Materialismus, so ist das Erdoğan-Regime ein Apparat, der konstruiert wurde, um die Interessen der Bourgeoisie zu schützen und die werktätigen Massen unter Druck zu halten. Die Unabhängigkeit der Justiz ist längst eine Illusion. Jene Mentalität, die seit den Ergenekon- und Balyoz-Prozessen mit fingierten Beweisen, geheimen Zeugen und medialen Lynchkampagnen die Unschuldsvermutung mit Füßen tritt, wendet diese Methoden heute in noch raffinierterer Form gegen die Opposition an. Das Wegsehen beim juristischen Mord seit der Einstellung der Korruptionsermittlungen vom 17. bis 25. Dezember hat das Fundament für das heutige Bild gelegt.

Um seine mit religiös-konservativen Codes verwobene Hegemonie zu schützen, zerstört das Regime den Boden für rationale Diskussionen. Das „Desinformationsgesetz“ und der Knüppel der Justiz dienen eigentlich dazu, zu verhindern, dass die werktätigen Massen die Wahrheit erkennen; sie dienen dazu, die Korruption, das Schmelzen des Mindestlohns angesichts der Inflation sowie die steigende Arbeitslosigkeit und Armut zu verschleiern. Denn je mehr die kritischen Medien zum Schweigen gebracht werden, desto reibungsloser funktionieren die Ausbeutungsmechanismen.

Die Liquidierung der Politik: Von den Rathäusern in die Zellen

Der Angriff beschränkt sich nicht nur auf Journalisten; auch der politische Raum wird verengt.

  • Lokalverwaltungen: Die nacheinander eröffneten Verfahren und Haftandrohungen gegen den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu sowie die Operationen gegen oppositionelle Stadtverwaltungen wie in Adana zielen darauf ab, eine „arbeitnehmerorientierte“ Politik in den Lokalverwaltungen zu untergraben. Das Ziel ist es, sicherzustellen, dass die lokalen Ressourcen nicht der Bevölkerung, sondern den Kapitalgruppen der zentralen Macht zufließen.

  • Kurdische Politik und die Linke: Der Knüppel des Regimes trifft am härtesten die kurdischen Politiker. Die jahrelange Inhaftierung von Selahattin Demirtaş, die willkürliche Ablehnung des Antrags von Selçuk Mızraklı auf Verlegung in den offenen Vollzug und die Verhinderung der Freilassung von Figen Yüksekdağs Zellengenossin Gazel Bulut zeigen, wie sich das Recht in ein „Racheinstrument“ verwandelt hat.

Imperialistische Widersprüche und das vom Westen geschaffene Vakuum

Warum gewinnt dieser autoritäre Sprung gerade jetzt an Fahrt? Die Antwort liegt in dem internationalen Vakuum und den imperialistischen Widersprüchen, die Erdoğan meisterhaft nutzt.

  • Der Trump-Effekt: Die Rückkehr von Donald Trump in das US-Präsidentenamt und seine „America First“-Politik lockern den menschenrechtlichen Druck auf die Türkei. Washington sieht Erdoğan als ein „ausgleichendes Element“ im Nahen Osten.

  • Die Krise Europas: Während der Ukraine-Russland-Krieg Europa in eine Energie- und Sicherheitskrise stürzt, verschafft sich Erdoğan einerseits durch Energieabkommen mit Russland eine wirtschaftliche Atempause und vermarktet andererseits die militärischen Kapazitäten der Türkei (Lage am Schwarzen Meer, Rüstungsindustrie) an den Westen.

  • Das Abkommen des Schweigens: Aufgrund von Sicherheitsbedenken gibt der Westen grünes Licht für Erdoğans internen Autoritarismus. Da die internationale Kontrolle schwächer wird, agiert das Regime im Inneren rücksichtsloser. Während Erdoğan seit Beginn des Krieges außenpolitisch als „Vermittler“ punktet, zerschlägt er im Inneren die Opposition.

Fazit: Der Ausweg aus der Dystopie ist Widerstand

Dass Erdoğan „Demokratie“-Reden schwingt, während er Journalisten in Zellen sperrt, wirkt wie aus einem dystopischen Roman; doch dieser Roman ist leider unsere Realität. Aber diese Repressionen sind zugleich ein Zeichen für die Schwäche und die Angst des Regimes.

Angesichts dieser Gesetzlosigkeit zu schweigen, wäre ein Sieg für das Regime. Diese Geschehnisse sind kein Schicksal, sondern eine verschärfte Phase des Klassenkampfes. Es ist notwendig, diese Ereignisse mit einer rationalen Haltung zu analysieren und sich von dogmatischen Ideologien zu lösen. Die Geschichte lehrt uns: Faschistoide Strukturen können nur durch kollektiven Widerstand gestürzt werden.

Mut bedeutet, die Wahrheit zu suchen und sie auszusprechen; sich nicht dem Sieg der vorübergehenden Lügen zu beugen. Das Erdoğan-Regime kann dieses globale Vakuum nicht ewig ausnutzen; denn diejenigen, die auf der Seite der Arbeit stehen, werden früher oder später Rechenschaft fordern.

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