Von: Dtj-online
Der Beschluss datiert auf den 5. November, doch die Tragweite reicht weit darüber hinaus: Das Bundesinnenministerium hat den Verein Muslim Interaktiv verboten, sein Vermögen beschlagnahmt und mehrere Objekte in Hamburg durchsuchen lassen. Parallel dazu durchsuchten Behörden in Berlin und Hessen Strukturen der Gruppen Generation Islam und Realität Islam. Auch sie stehen längst auf der Abschussliste.
Was wie eine klare administrative Maßnahme wirkt, entfaltet eine tiefere Bedeutung. Die Ereignisse erinnern an ein Kapitel deutscher Innenpolitik, das man längst abgeschlossen glaubte – und das nun in unerwarteter Weise wieder aufschlägt. Denn der Ton der Begründung, die das Ministerium vorlegt, wirkt vertraut. Eine Organisation, die das demokratische System ablehnt. Die Errichtung eines Kalifats fordert.
Erinnerungen an eine unterschätzte Bewegung
Die Menschenrechte missachtet, Israel delegitimiert, Frauen und Minderheiten abwertet. Die sich digital perfekt inszeniert und junge Menschen mit starken Bildern, klaren Feindbildern und einem Gefühl von Zugehörigkeit anzieht. All das ruft Erinnerungen wach an jene Jahre, in denen salafistische Bewegungen zu einer unterschätzten gesellschaftlichen Kraft heranwuchsen – und Deutschland zwischen 2010 und 2013 in eine innenpolitische Alarmstimmung versetzten.
Damals verschliefen die Sicherheitsbehörden, das muss man heute nüchtern feststellen, den Aufbau mehrerer Hochburgen. Solingen, Wuppertal, Dinslaken, Teile des Ruhrgebiets – Orte, die plötzlich auf der internen Landkarte des Verfassungsschutzes auftauchten, als es längst zu spät war. In diesen Städten radikalisierten sich deutsche Jugendliche oft über Jahre nahezu lautlos. Sie wurden von Predigern, Peer-Groups und digitalen Gemeinschaften angezogen, in Hinterhofmoscheen und Wohnzimmerkreisen ideologisch geschult, von charismatischen Figuren umworben, deren Botschaften radikal, aber identitätsstiftend wirkten. Die Behörden reagierten spät, manchmal erst dann, als die Flüge nach Gaziantep und Istanbul bereits gebucht waren und die Jugendlichen auf den Weg nach Syrien oder in den Irak waren, wo sie sich dem sogenannten Islamischen Staat anschlossen.
Die digitalisierte Rückkehr der alten Muster
Viele von ihnen starben dort – einige in Kämpfen, andere in Bombardierungen oder Hinrichtungen. Zurück blieben Angehörige, die bis heute versuchen zu verstehen, wie ihre Kinder in wenigen Jahren von unauffälligen Teenagern zu Kämpfern einer Terrororganisation werden konnten. Zurück blieben auch Kinder, die in den Kriegsgebieten geboren wurden und deren familiäre Identität oft unklar blieb. Für viele Familien in Deutschland waren diese Jahre ein Riss, der bis heute nicht verheilt ist.
Vor diesem Hintergrund erhält das Verbot von „Muslim Interaktiv“ eine beinahe historische Dimension. Es markiert nicht nur das Ende einer Organisation, sondern stellt die Frage, ob die Mechanismen der Vergangenheit erneut wirksam werden. Die Sicherheitsbehörden sehen zumindest Anzeichen dafür, dass sich salafistische Milieus im Schatten gesellschaftlicher Debatten wieder organisieren. Nicht mehr offen auf den Straßen, sondern subtiler, schneller, digitaler. In einer Sprache, die zeitgenössischer wirkt, weniger predigend, mehr aktivistisch. In einer Bildsprache, die Instagram und TikTok entlehnt ist, nicht mehr VHS-Predigten oder langen Audiovorträgen. Und in einer politischen Atmosphäre, die durch internationale Konflikte, soziale Spannungen und digitale Echo-Räume empfänglich für klare Erzählungen geworden ist.
Die Eltern, die den Preis der Vergangenheit tragen
Die Frage ist, ob diesmal früher gesehen wird, was damals übersehen wurde. Ob Schulen, Jugendämter und Sicherheitsbehörden rechtzeitig wahrnehmen, wenn Jugendliche in Online-Debatten radikale Positionen übernehmen, nicht aus theologischer Überzeugung, sondern aus dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit in einer komplexen Welt. Ob präventive Ansätze schneller greifen und ob die Gesellschaft in der Lage ist, den emotionalen Resonanzraum zu erkennen, in dem solche Gruppen erfolgreich werden.
Für die Eltern jener Jugendlichen, die einst nach Syrien ausreisten und dort starben, ist die aktuelle Entwicklung kaum erträglich. Viele von ihnen leben seit Jahren in einem Zustand der stillen Trauer, der nie vollständig endet. Manche fühlen sich durch die neuen Schlagzeilen auf schmerzhafte Weise an den Anfang ihrer Geschichte zurückversetzt.
Was das Verbot über die Gegenwart verrät
Die Aussicht, dass Deutschland erneut mit einer salafistischen Bewegung konfrontiert sein könnte, lässt ihre alten Ängste wieder aufbrechen – und ihre Erfahrung erinnert daran, wie hoch der Preis des Wegschauens sein kann.
Das Verbot von „Muslim Interaktiv“ ist deshalb mehr als eine verwaltungsrechtliche Maßnahme. Es ist eine Warnmarke. Eine Erinnerung daran, dass Deutschlands Ruhe in dieser Frage nie selbstverständlich war. Und ein Hinweis darauf, dass eine neue Welle nicht mit Straßenständen beginnt, sondern mit Algorithmen, die erkennen, wen man mit welchen Botschaften erreicht.