Berliner Muslim Tugay Sarac: „Ich dachte, der einfachste Weg ins Paradies ist der Märtyrertod“

                                                           Geschichte von Stefan Hochgesand/ Berliner Zeitung 
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                                   Tugay Sarac beim Interview-Termin mit der Berliner Zeitung nahe der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee © Sophia Emmerich für die Berliner Zeitung
 

Berlin-Moabit. Tugay Sarac führt uns in den Gebetsraum der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee unweit der Turmstraße. Offiziell ist das Gotteshaus seit Monaten weitgehend verriegelt. IS-Terroristen hätten einen Anschlag geplant, berichtet Tugay Sarac – wegen der Offenheit dieser Moschee für Queers. Seit 2020 gibt es hier die Anlaufstelle Islam und Diversity: Seelsorge, Beratung, auch Workshops an Schulen. Dafür kassierten sie Tausende Morddrohungen. Tugay Sarac macht trotzdem weiter. Woher nimmt er diese Kraft?

Herr Sarac, Ihnen geht es darum, wie der Islam und Queerness zusammen gedacht werden können?

Unser Hauptanliegen ist es, denjenigen zu helfen, die „betroffen“ sind. Viele queere Muslime denken nämlich, dass sie die einzigen sind. Auf der anderen Seite machen wir Arbeit an Schulen und auch an der Deutschen Islamkonferenz, wo wir versuchen, zumindest eine gewisse Toleranz für dieses Thema zu schaffen – damit betroffene Personen nicht Mobbing, Ausgrenzung und Gewalt ausgesetzt sind.

Wie ergeht es Ihnen, wenn Sie mit dem Thema an Berliner Schulen gehen?

Wir machen tatsächlich bundesweit Workshops. Klassenstufen 8 bis 13. Die Reaktionen sind sehr durchwachsen. Bei anderen Themen ist die Stimmung nicht so aggressiv wie beim Thema Queerness. Bei den Themen Frauenrechte, Rassismus, Antisemitismus, Salafismus können wir gut an den Schulen diskutieren. Aber sobald es um Queerness geht, kippt die Stimmung.

Warum das?

Weil das als ein persönlicher Angriff aufgefasst wird. Viele haben das Gefühl, dass wir ihre Religion zerstören wollen. Die Stimmung ist teilweise sehr aggressiv. In 90 Prozent der Fälle erfahren wir starke Ablehnung.

Wie äußert sich das konkret?

Wir erleben Schüler (und das sind immer Jungs), die aufstehen, rot anlaufen, uns anschreien. Sie sagen, wir machen ihnen die Religion kaputt. Das Einzige, was für viele muslimische Kinder in Deutschland Identität stiftet, ist die Religion. Und dann kommen wir.

Unterscheiden sich die Reaktionen in Berlin und anderswo?

In Brandenburg und Norddeutschland ist die Stimmung auch nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Aber nicht so aggressiv wie in Berlin.

Woran könnte das liegen?

Ich glaube, dass hier mehr Parallelgesellschaften existieren. Ich weiß das auch aus meiner Kindheit: Es gibt hier die Möglichkeit, sich abzukapseln.

Wie sind Sie selbst aufgewachsen? Auch sehr religiös, oder?

Ja, als ehemaliger Salafist weiß ich genau, was in den Köpfen vor sich geht. Viele fühlen sich weder „richtig deutsch“ noch „richtig türkisch“ oder syrisch oder libanesisch. Sobald sie sich hier bewegen, sind sie „die Ausländer“. Sobald sie in der Heimat ihrer Vorfahren sind, gelten sie doch als „die Deutschen“. In der Türkei zum Beispiel gibt es große Diskriminierung gegenüber Deutsch-Türken. Salafisten sind klug. Sie haben es geschafft, da ein Vakuum zu füllen.

Wie meinen Sie das?

Sie sagen: „Bei uns bist du kein Deutscher oder Syrer oder Iraner. Bei uns bist du einfach nur Muslim.“ Das ist dann alles, was viele Menschen haben. Und dann kommen wir und wollen etwas in diesem System verändern. Wir wollen einen neuen Blick auf die Religion. Aber viele haben Angst, dass wir den Islam in den Schmutz ziehen. Und dass wir ihn verwestlichen. Zu beidem kann ich sagen, dass wir das nicht machen.

Was machen Sie denn?

Wir interpretieren nicht aus einer westlichen Perspektive. Wir nehmen islamische Quellen, lesen sie und interpretieren sie, ohne eine koloniale Position einzunehmen. Aber so wird es Leuten eingetrichtert. TikTok ist sehr erfolgreich mit den ganzen Predigern dort. Klar, dass das Leute glauben. Es ist schwer, da rauszukommen.

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                                              Tugay Sarac sagt: „Liebe ist halal“ – und trägt das Motto auch als Brosche. © Sophia Emmerich für die Berliner Zeitung

Hier auf Ihrer Brosche steht: „Liebe ist halal“. Wie kommen Sie zu dieser Position?

Wir begründen das damit, dass wir kein Verbot sehen von queerer Liebe und sexuellen Beziehungen gleichgeschlechtlicher Menschen. Viele, die das Gegenteil glauben, verweisen auf die Geschichte von Lot. Die kennt man auch aus dem Alten Testament. Das ist die Geschichte von Sodom und Gomorrha. Im Koran geht es unserer Meinung nach dabei aber gar nicht um homosexuelle Liebe. Sondern es geht um Gewalt und Vergewaltigung. Dafür wird das Volk von Lot bestraft. Liebe aber ist halal.

Die Geschichte von Lot gibt es auch im Juden- und im Christentum. Wie wichtig finden Sie den Austausch mit anderen Religionen?

Extrem wichtig. Seit 2017 machen wir interreligiösen Dialog. Früher war unsere Moschee in einer Kirche. Nun ist sie in einem Gebäude, das der Kirche gehört. Wir tauschen uns auch immer aus. Wir haben es schon vorher gemacht, aber seit dem 7. Oktober 2023 ist es mir noch mal mehr ein Anliegen: Arbeit gegen Antisemitismus. Das ist für uns ein großes Thema, und wir kooperieren mit jüdischen Partner:innen. Viele Konflikte fußen leider immer noch auf Religion. Auch der Antisemitismus im Islam.

Wie würden Sie Ihre eigene Kindheit und Jugend mit dem Islam beschreiben? Und Ihre Radikalisierung?

Ich bin in einem türkisch-konservativen Haushalt aufgewachsen. Es wurde gebetet, aber nicht fünfmal am Tag. Mein Vater war ein klarer Patriarch. Er hat bestimmt, was die Regeln sind. Er hat mir von Anfang an beigebracht, dass Homosexualität etwas Schlechtes ist. Er hat mir als kleinem Kind erzählt, wie er im Fußballverein mal einen Schwulen zusammengeschlagen hat, mit seinen Freunden. Ich wollte wissen: Warum hast du das gemacht? Er: „Ich hab doch gesagt, er war schwul.“ Wenn ich damals den Kinderwagen meiner kleinen Schwester mitschieben wollte, hat er gesagt: „Hör auf damit! Das ist schwul.“ Ich habe sehr früh realisiert: Schwulsein ist wohl etwas Schlechtes. Irgendwann hab ich aber gemerkt, dass ich selber Gefühle für Jungs habe. Das war für mich ein großer Schock. Da war ich acht oder neun Jahre alt. Richtig realisiert habe ich es mit elf oder zwölf. Ich habe gedacht: „Oh Gott, wenn Papa das wüsste – dann wär der richtig sauer.“

Hatten Sie vor ihm trotzdem später ein Coming-out?

Als ich 13 war, ist er verstorben. Ich dachte dann, ich muss ihn stolz machen. Trotz allem war er für mich ein sehr wichtiger Mensch. Ich dachte also: Ich muss einen guten Job finden. Und ich muss heterosexuell werden. Ich habe recherchiert, wie ich mein Schwulsein wegkriege. In deutschen Artikeln stand meist, dass Schwulsein voll okay und ganz normal ist. Das hat mich nicht zufriedengestellt. Also habe ich „Islam und Homosexualität“ gegoogelt. Da bin ich auf viele salafistische Foren gestoßen. Und Prediger auf Facebook und YouTube. Ich wollte, dass meine Bittgebete angenommen werden. Mein Gedanke war: Dafür muss ich erst ein guter Muslim sein. So habe ich mich langsam über sechs Jahre hinweg radikalisiert.

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                                              Tugay Sarac im Gebetsraum der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee © Sophia Emmerich für die Berliner Zeitung

Sie baten Allah darum, dass er Sie hetero macht?

Das stand für mich immer an erster Stelle. Aber auch Jahre später war ich immer noch nicht hetero. Ich war ein sehr trauriger Mensch. Ich war sehr frustriert. Es gab für mich nichts Schlimmeres, als schwul zu sein. Ich dachte, vielleicht ist für mich der einfachste Weg ins Paradies der Märtyrertod. Ich habe darüber nachgedacht, mich der Al-Nusra-Front in Syrien anzuschließen. Letztlich hab mich aber doch noch eines Besseren besonnen.

Wie haben Sie Ihr Schwulsein schließlich doch noch akzeptiert?

2017 wurde ja diese Moschee hier gegründet. Ich war von Anfang an dabei. Meine Tante Seyran Ates ist die Gründerin. Wobei es keinesfalls so selbstverständlich war, dass ich dabei sein würde – denn wir hatten vorher auch viele Konflikte. Jedenfalls hatten wir im Oktober 2017 einen schwulen Imam aus Frankreich zu Besuch. Der hat einen Vortrag zu dem Thema gehalten. Sehr wissenschaftlich, wenig emotional. Zu diesem Zeitpunkt habe ich gedacht: Vielleicht geht das ja doch zusammen. Zwei Monate später habe ich mich dann vor meiner Tante geoutet.

Und dann haben Sie hier auch bald eine Queer-Gruppe gegründet, richtig?

Ja, wie eine Art Stammtisch, ab 2019. Die Idee war, dass wir aus unserem Alltag rauskommen. Dass wir zeigen, dass es gleich gesinnte Menschen gibt. Aber dann kamen immer wieder Lockdowns dazwischen. Und aktuell treffen wir uns auch nicht. Wegen Sicherheitsbedenken.

Wieso das?

Weil ich nicht weiß, wer da kommt. Das ist aktuell die Schwierigkeit. Wie kommunizieren wir nach draußen, dass Leute kommen können, ohne das falsche Publikum anzulocken?

Auch die Moschee ist derzeit geschlossen.

Wir waren einige Monate komplett geschlossen, ab dem 11. Oktober 2023. Wir machen jetzt wieder Freitagsgebete, aber immer nur mit Anmeldung.

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                                 Tugay Sarac beim Interview-Termin mit der Berliner Zeitung in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Moabit © Sophia Emmerich für die Berliner Zeitung

Warum haben Sie die Moschee geschlossen?

Ein Journalist rief uns an und wollte „über den Anschlag sprechen“. Über einen geplanten Anschlag von IS-Terroristen auf unsere Moschee. Wir sind aus allen Wolken gefallen, weil wir davon gar nichts wussten. Acht Terroristen hatten aber offenbar geplant, bei uns einen Anschlag zu verüben. Sie waren auch schon in Deutschland und dabei, sich Waffen zu besorgen. Zu dem Zeitpunkt, als wir davon erfuhren, waren sie bereits im Gefängnis. Aber wir haben im Zuge dessen erfahren, dass wir in einem IS-Magazin als potenzielles Terrorziel geführt werden. Da haben wir entschieden, erst mal dichtzumachen.

Wie konnte das sein, dass ein Journalist davon wusste – aber Sie nicht von den Sicherheitsbehörden gewarnt wurden?

Die Anklageschrift ist theoretisch eine einsehbare Informationsquelle. Aber man muss natürlich erst mal wissen, wonach man guckt. Wir waren jedenfalls schockiert, dass wir nicht von den Behörden informiert wurden.

Sicherheitsvorkehrungen musste es hier in der Moschee von Anbeginn geben, richtig?

Ja, wir haben Objektschutz. Wir haben einen eigenen Sicherheitsdienst. Aber einen eigenen Personenschutz hat nur unsere Gründerin Seyran Ates. Die wird immer vom LKA begleitet. 24/7.

Auch früher haben Sie beide viele Morddrohungen erhalten. Wieso hatte das geplante Attentat nun aus Ihrer Sicht eine andere „Qualität“?

Wir bekommen Morddrohungen, seit wir uns gegründet haben. Man gewöhnt sich in gewisser Weise daran. Man hat eine Vorstellung: Was kann man ernst nehmen und was nicht? Aber diese besagten Typen waren sogar hier. Sie haben Infomaterial mitgenommen, Fotos gemacht. Sie haben uns ausgespäht und in ihren Gruppen Fotos hin und her geschickt. Es wurde das erste Mal richtig konkret. Ich wurde auch schon auf der Straße beleidigt, bedroht und angespuckt. Besonders 2021 war ich sehr sichtbar in Berlin mit der „Liebe ist halal“-Kampagne. Ich bin zeitweise nur noch mit Kappe und FFP2-Maske rausgegangen, damit man mich nicht erkennt. Aber richtige Terroristen, die schon geplant haben, welche Waffen sie kaufen – das ist was anderes.

Wieso werden Sie so sehr angefeindet?

Das hat alles mit unserer Queer-Arbeit angefangen. Das löst am meisten Aggressionen aus. In besagtem IS-Magazin werden wir als Ort der Teufelsanbetung angeführt. Wir hatten 2022 und 2023 eine riesige Regenbogenflagge gehisst. Wir wissen, was Hass bedeutet – aber mit so massiven Reaktionen hatten wir nicht gerechnet. Wir sind eine Zielscheibe für Islamisten – nicht nur in Deutschland, sondern international. Von Russland über den Iran bis nach Ägypten. Unsere Gesichter tauchten in Medien in der Türkei auf. Hohe Leute in Tschetschenien haben sich geäußert. Wir haben Anzeige erstattet. Gegen sehr viele Menschen. Die Liste ist 50 DIN-A4-Seiten lang.

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                                     Vorm Eingang der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee: Projektleiter Tugay Sarac © Sophia Emmerich für die Berliner Zeitung

Wenn Leute erst mal eine Waffe in der Hand halten, ist sicher kaum noch Dialog möglich. Aber wie ist das, wenn Sie einen Workshop in der Schule geben? Lässt sich da Überzeugungsarbeit leisten?

Ich erzähl dort oft meine Geschichte. Erfahrungsgemäß ist das viel wert in den Klassen. Es bedeutet ihnen etwas, dass eine muslimische Person vor ihnen sitzt, die selbst mal Salafist war. Wir sagen auch nicht, dass unsere Position die einzig wahre ist. Wir glauben, dass ein konservativer Islam eine Daseinsberechtigung hat. Auch wenn er nichts für mich ist. Wir versuchen, die Kinder zu überzeugen, dass es andere Möglichkeiten gibt, den Islam und alles andere auf dieser Welt zu interpretieren und zu verstehen. Dafür versuchen wir eine Toleranz zu schaffen. Natürlich wäre es schön, wenn die Kinder am Ende mit auf die Pride-Demo kommen und Regenbogen-Flaggen hochhalten. Das ist nicht direkt unser Ziel – aber diejenigen, die es wollen, sollen es frei machen können.

Und wie erfolgreich sind Sie mit dieser Message?

Natürlich rufen am Ende nicht 30 Kinder: „Hurra, jetzt hab ich’s verstanden.“ Da ist immer viel Widerstand. Aber nach Gesprächen mit vielen Tausend Kindern wissen wir, was die Ängste und die Argumente sind. Es ist wichtig, den Kindern Raum zu geben, ihre Bedenken anzusprechen – aber dann auch zu widersprechen, wo es nötig ist. Dazu braucht man speziell ausgebildetes Personal. Das können viele Lehrkräfte nicht stemmen. Selbst wenn wir nur drei oder vier Kinder pro Workshop erreichen, ist das schon viel wert. Und ich bin mir sicher, dass wir das auch schaffen. Wir lassen immer unsere Flyer da. Bei den Lehrkräften. Denn kein Schüler würde sich trauen, ihn direkt einzustecken. Aber sie wissen Bescheid, dass sie in einem sicheren Moment die Lehrkräfte ansprechen können. Hinterher haben uns schon einige geschrieben und sich bedankt für das, was wir machen.

Gibt Ihnen das die Kraft, trotz aller Widerstände weiterzumachen?

Ja, die Personen, die uns brauchen, geben mir die Kraft. Es gibt nicht viele, die diese Arbeit machen. Ich kenne meine Geschichte. Wenn mich in Schulen alle anschreien, weiß ich fast sicher, dass unter den Personen, die mich beschimpfen, auch solche sind, die selbst betroffen sind. Ich war früher selbst einer von denen, die homophob rumgeschnauzt haben. Aus lauter Angst, es könnte jemand merken.


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