Und dann verlässt Ataman doch die überparteiliche Rolle
Artikel von Sabine Menkens Die Welt
Die unabhängige Antidiskriminierungsstelle des Bundes meldet einen Höchststand an Beratungsanfragen. Beim Thema Selbstbestimmungsgesetz fällt die Bundesbeauftragte Ferda Ataman schließlich aber doch aus ihrer neutralen Rolle: Sie warnt vor einem „Kulturkampf“, der „rechtsradikale Narrative bedient“
© Bereitgestellt von WELT
Es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass Ferda Ataman vom Deutschen Bundestag zur Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung gewählt wurde. Eine Wahl, die wegen der oft sehr pointierten Zwischenrufe der Publizistin umstritten war. Ataman gelobte Mäßigung und eine überparteiliche Amtsführung. Jetzt zeigt sich, mit welchem Selbstbewusstsein die Antidiskriminierungsstelle des Bundes geführt wird, nachdem nicht länger ein Amtsleiter, sondern eine Bundesbeauftragte an der Spitze steht.
Das belegt der Jahresbericht für 2022, den Ataman am Dienstag vorlegte. Seit Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im Jahr 2006 haben sich noch nie so viele Menschen mit ihren persönlichen Zurückweisungserfahrungen an der Arbeitsstelle oder bei Alltagsgeschäften an die Antidiskriminierungsstelle gewendet. 8827 Beratungsanfragen registrierte Atamans Behörde – 14 Prozent mehr als im Vorjahr und doppelt so viele wie noch 2019.
Gleichzeitig sei überdeutlich geworden, wie dringend eine Reform des AGG nötig sei, sagte Ataman. Denn das Agieren staatlicher Institutionen wie Ämter, Behörden, Polizei, Justiz und Schulen ist vom AGG nicht erfasst. Gleichwohl macht die Diskriminierung durch staatliche Stellen und Bildungseinrichtungen inzwischen über ein Viertel aller Beratungsanfragen aus. Dass der Schutz vor Diskriminierung ausgerechnet hier nicht gelte, sei „nicht nachvollziehbar und schwächt das Vertrauen in den Staat“, sagte Ataman.
Und noch ein weiteres Handlungsfeld hat sie ausgemacht: die Diskriminierung durch Systeme Künstlicher Intelligenz, also Algorithmen und automatisierter Entscheidungssysteme, etwa bei der Job- oder Wohnungssuche. Hier will sie im Sommer konkrete Vorschläge vorlegen. Um das AGG bekannter zu machen, plant Ataman im Herbst eine Informationskampagne. Zudem ist ein deutlicher Ausbau der Beratungsstellen geplant. Mit dem Programm „respekt*land“ sollen 35 Projekte aus dem gesamten Bundesgebiet mit einem Fördervolumen von insgesamt fünf Millionen Euro unterstützt werden.
„Wer diskriminiert, verliert“
Insgesamt habe Deutschland mit dem AGG eines der schwächsten Gleichbehandlungsgesetze Europas, so Ataman. Kein Land habe weniger staatliche Kompetenzen, Menschen im Fall von Diskriminierung zu helfen. Derzeit kann die Antidiskriminierungsstelle Menschen nur beraten, den Klageweg müssen sie selbst bestreiten. In den meisten anderen Ländern gibt es hingegen eine eigene Klagemöglichkeit der Antidiskriminierungsstelle oder zumindest Untersuchungsrechte oder andere Unterstützungsmöglichkeiten vor Gericht. Eine Reform sei überfällig, mahnte Ataman an: „Ich möchte, dass wir endlich ein wirksames und modernes Antidiskriminierungsgesetz in Deutschland bekommen.“
Und auch beim Schutzbereich des AGG sieht Ataman deutliche Lücken. Als Diskriminierungsmerkmal ist dort bislang Rasse oder ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität aufgeführt – nicht aber etwa Staatsangehörigkeit oder familiäre Fürsorgeverantwortung. Von den insgesamt 8827 Beratungsanfragen bezogen sich daher nur rund 6600 Anfragen auf ein geschütztes Diskriminierungsmerkmal. In rund 2200 Fällen meldeten sich Menschen, die aus anderen Gründen benachteiligt wurden, etwa aufgrund von Elternschaft oder sozialem Status.
Unter den gesetzlich geschützten Merkmalen machen die rassistischen Diskriminierungen mit 43 Prozent erneut den größten Anteil aus. 27 Prozent der Fälle bezogen sich auf Diskriminierungen aufgrund einer Behinderung, 21 Prozent auf das Geschlecht, zehn Prozent auf das Alter, fünf Prozent auf Religion, vier Prozent auf sexuelle Identität und ein Prozent auf Weltanschauung. „Immer mehr Menschen informieren sich über ihre Rechte und haben den Mut, Diskriminierung anzusprechen“, kommentierte Ataman die Zahlen. „So paradox das klingen mag: Die wachsende Zahl von Beratungsanfragen ist ein Zeichen für gesellschaftliche Reife und Fortschritt.“ Das Problembewusstsein in der Gesellschaft sei gewachsen, einer Mehrheit von 88 Prozent sei Antidiskriminierungspolitik wichtig, zitiert sie eine Bertelsmann-Studie. Und auch für die Wirtschaft sei das Thema zentral, sagt Ataman: „Wer diskriminiert, verliert.“
Und dann verlässt Ataman doch die überparteiliche Beobachterwarte – und lässt erkennen, dass sie ihr Amt sehr wohl auch politisch versteht. Sie beobachte mit großer Sorge eine „Rückkehr des Ressentiments in politischen Debatten und eine noch nie dagewesene Welle von Hass im Netz“, teilweise befeuert durch Trollfabriken in den sozialen Medien. „Demokratische Parteien haben gerade jetzt Populisten nicht nachzueifern, sondern sich ihnen entgegenzustellen. Wer die liberale Demokratie stärken will, darf nicht aus jeder neuen Gesetzesidee einen Kulturkampf machen, der auf Twitter, Facebook und Co vermutlich gut läuft, aber rechtsradikale Narrative bedient.“
Konkrete Beispiele nennt sie an dieser Stelle nicht. Aber später erwähnt sie doch, was sie zuletzt auf die Barrikaden getrieben hat: die Diskussion über das Selbstbestimmungsgesetz, das einen erleichterten Wechsel des Geschlechtseintrags ermöglichen soll. Sie würde sich wünschen, dass hier die Bedürfnisse von trans- und intergeschlechtlichen Menschen in den Vordergrund gerückt würden und nicht so sehr Debatten, „die teilweise sehr konstruiert“ daherkämen, sagt sie mit Blick auf die Diskussion um die mögliche Gefährdung von Frauenschutzräumen durch Transpersonen. „Es ist beunruhigend, wenn in einem Gesetzestext auf rechtspopulistische Debatten eingegangen wird. Das ist ein schlechtes Signal, das macht mir tatsächlich Bauchschmerzen.“