Tagesspiegel

Höchststand bei politisch motivierter Kriminalität: Mehr als 44.000 Straftaten von Extremisten im Corona-Jahr

Frank Jansen

Die Polizei hat 2020 so viele politisch motivierte Delikte festgestellt wie seit 2001 nicht mehr. Vor allem Rechts- und Linksradikale schlagen zu.

© Foto: imago images/Patrick Scheiber Trauer um die Opfer. Am Jahrestag des rassistischen Anschlags vom 19. Februar 2020 wurde in Hanau der neun erschossenen Menschen aus Einwandererfamilien gedacht.

Extremisten gefährden in der Coronakrise zunehmend die innere Sicherheit der Bundesrepublik. Im vergangenen Jahr hat politisch motivierte Kriminalität nach Informationen des Tagesspiegels den höchsten Stand seit 2001 erreicht. Die Polizei registrierte insgesamt 44.034 Straftaten von Rechtsextremisten, Linksextremisten, Reichsbürgern, Islamisten und weiteren Fanatikern.

Im Jahr 2001 hatte die Polizei das Erfassungssystem „Politisch motivierte Kriminalität (PMK)“ eingeführt. Die aktuelle Zahl übertrifft die Gesamtbilanz von 2019 um knapp 3000 Delikte und ist sogar mehr als doppelt so hoch wie jeweils in den Jahren 2002, 2003 und 2004. Es gab 3354 Gewalttaten, dabei wurden elf Menschen getötet und weitere 1367 verletzt, darunter 26 Kinder und 77 Jugendliche.

 Die Angaben finden sich in der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine umfangreiche Anfrage der Grünen-Abgeordneten Irene Mihalic und ihrer Fraktion zu politisch motivierter Kriminalität. Alle Fallzahlen sind vorläufig und können durch Nachmeldungen noch steigen.

Der 106 Seiten umfassende Schriftsatz liegt dem Tagesspiegel vor. Die Zahlen stellten einen „traurigen und besorgniserregenden Rekord dar“, sagte Mihalic, die für ihre Fraktion als Sprecherin für Innenpolitik auftritt. „Seit Beginn der Erfassung im Jahr 2001 waren wir noch nie mit so einer hohen Zahl an Vorfällen konfrontiert und erneut ist klar, dass eine massive Gefahr vom rechtsextremen Spektrum ausgeht - noch konkreter: von rechtsextremen Männern, die den Hauptteil der Tatverdächtigen ausmachen.“

Über 1000 rechte Straftaten mehr als 2019

Die Polizei rechnet die meisten politisch motivierten Delikte aus dem vergangenen Jahr dem Spektrum von Neonazis und anderen Rechten zu. Das Ministerium meldet 23.403 Straftaten bei „PMK -rechts“.

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Das sind über 1000 Delikte mehr als 2019, damit ist der zweithöchste Stand seit 2001 erreicht. Militante Rechtsextremisten verübten 1071 Gewaltdelikte. Der Anstieg ist mit 85 Taten vergleichsweise gering, doch die Zahl der Todesopfer rechter Gewalt ist eine der höchsten in der Geschichte der Bundesrepublik.

Im Februar 2020 starben bei dem rassistischen Attentat in Hanau neun Menschen aus Einwandererfamilien. Bei weiteren gewaltsamen rechten Attacken wurden 625 Menschen verletzt, unter ihnen 25 Kinder und 59 Jugendliche.

Links motivierte Täter begingen 2020 die meisten Gewalttaten. Die Polizei meldete 1570 Körperverletzungen, Brandstiftungen und weitere Delikte. Das bedeutet eine Zunahme um 518 Taten und damit um rund 50 Prozent gegenüber 2019.

Bei den Angriffen wurden 484 Menschen verletzt, zehn waren Jugendliche. Die Zahl aller links motivierten Delikte ist mit 10.961 ebenfalls die höchste seit 2001 und übertrifft sogar das Jahr 2017 mit den schweren Krawallen beim G-20-Gipfel in Hamburg.

Mihalic kommentiert: „Im Bereich Linksextremismus ist der starke Anstieg der Gewalttaten erschreckend. Hier benötigen wir dringend Analysen, insbesondere zur Frage, ob es sich um regionale Hotspots handelt oder ob wir es mit einer bundesweit steigenden Gewaltbereitschaft im linksextremen Spektrum zu tun haben.“

Seehofer: "Wir sind auf keinem Auge blind"

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte dem Tagesspiegel, die PMK-Zahlen belegten, "dass die Gefahr durch Rechtsextremismus auf hohem Niveau fortbesteht. Dagegen gehen wir konsequent vor. Aber auch die Gewaltbereitschaft der linksextremistischen Szene ist stark gestiegen. Das zeigt der deutliche Anstieg bei linksextremistischen Gewalttaten." Seehofer betonte, "wir sind auf keinem Auge blind. Ob Rechtsextremismus, Linksextremismus oder islamistischer Extremismus, unsere Sicherheitsbehörden haben alle Formen von Extremismus genau im Blick."

Zu dem bitteren Rekord in der Gesamtbilanz politisch motivierter Kriminalität trug auch der Höchststand der antisemitischen Straftaten seit 2001 bei. Die Polizei stellte im vergangenen Jahr insgesamt 2322 judenfeindliche Delikte fest, darunter 56 Gewalttaten.

Bei fast allen Delikten, insgesamt 2204, geht die Polizei von rechten Tätern aus. Mihalic betonte, „dass wir im Jahr 2020 so viele antisemitische Straftaten wie noch nie zuvor verzeichnen, muss ein dringender Weckruf an die Bundesregierung und die Sicherheitsbehörden sein. Jüdinnen und Juden müssen sich in Deutschland sicher fühlen können. Dafür muss jede Form des Antisemitismus bekämpft werden.“

Rechte Täter dominieren zudem bei islamfeindlichen Taten. Die Polizei rechnete 935 Delikte Neonazis und anderen Rassisten zu. Insgesamt wurden 1014 islamfeindliche Straftaten festgestellt.

Straftaten von Coronaleugnern oft nicht ideologisch zuzuordnen

Hinzu kommt der beträchtliche Anstieg politisch motivierter Straftaten, die von der Polizei keinem ideologischen Spektrum zugeordnet werden. Das treffe auf viele Straftaten von Coronaleugnern zu, hieß es in Sicherheitskreisen. Die Zahl dieser „sonstigen“ Delikte stieg 2020 um mehr als 1500 auf 8214. Das ist auch der höchste Wert seit 2001.

Aus Sicht von Mihalic unternimmt die Bundesregierung bei diesem Thema zu wenig. „Die hohe Anzahl an Fällen, die keinem Phänomenbereich zugeordnet werden können, lässt sich vermutlich auf Taten aus dem Coronaleugner-Spektrum zurückführen“, sagte die Grünen-Politikerin.

„Nach einem Jahr der Proteste und der zunehmenden Radikalisierung sollte auch der Bundesregierung und den Sicherheitsbehörden mittlerweile klar sein, dass die Proteste von rechts dominiert werden. Die Augen dürfen vor dieser Entwicklung nicht länger verschlossen werden."

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