Ende des Volkspartei-Traums: Die Grünen dürfen nicht immer Nein sagen

Artikel von Rüdiger Soldt  FAZ 

Der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir bei einem Redaktionsbesuch im September 2023

Der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir bei einem Redaktionsbesuch im September 2023 © Lucas Bäuml

Zur Regierungshalbzeit stehen die Grünen wieder dort, wo sie eigentlich nicht mehr sein wollten: Sie drohen, wieder zur ins eigene Milieu verliebten Nischenpartei zu werden. Die Migrationskrise und zuvor das missglückte Wärmepumpen-Gesetz könnten sie mit Wucht zurück in eine überwunden geglaubte Phase ihrer eigenen Geschichte katapultieren. Die vollmundigen Wünsche, „grüne Volkspartei“ oder „Brückenpartei“ zu werden, sind verstummt.

Auch von dem Führungsanspruch, den man bei der ökologischen Transformation der Wirtschaft stellvertretend für die gesamte Gesellschaft einnehmen wollte, sprechen die Grünen nur noch selten. Das müsste nicht so sein, denn alle großen Themen der Grünen, etwa der Klimaschutz oder die Bekämpfung des Artensterbens, haben mit dem Überleben der Spezies Mensch zu tun. So erklärt sich auch der zeitweise Höhenflug der Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock 2021.

Beim derzeit wichtigsten Thema, der Flüchtlingspolitik, halten die Bürger die Grünen weder für kompetent noch lösungswillig. Schlimmer, sagen grüne Realos, könne man nicht in der Defensive sein. Allerdings sind das Image einer Partei und ihr tatsächliches Agieren unterschiedliche Dinge. In Zeiten, in denen Politiker dazu neigen, sachpolitische Debatten kulturkämpferisch aufzuladen, können die Menschen Sachentscheidung und Zerrbild gar nicht mehr unterscheiden, auch deshalb wächst in der Bevölkerung der Zorn auf die Grünen.

Es reicht nicht, immer „Dammbruch“ zu schreien

War es bei der Wärmepumpe der fatale Glaube der Technokraten in Robert Habecks Ministerium, man müsse durchregieren, ist es in der Flüchtlingspolitik die grüne Neigung, bei Vorschlägen zum Asylrecht grundsätzlich zunächst Nein zu sagen. Es reiche nicht, sagte der grüne Finanzminister in Baden-Württemberg Danyal Bayaz, immer „Dammbruch“ zu schreien. Das verstärkt den Eindruck der Veto-Partei, der auf Länderebene auch nicht den Tatsachen entspricht: Dort unterstützen von den aktiven grünen Regierungspolitikern bis auf eine Ausnahme alle den Kompromiss für das „Gemeinsame Europäische Asylsystem“.

Die Grünen sind für beschleunigte Asylverfahren; grüne Kommunalpolitiker wenden sich mittlerweile gegen den Bau neuer Erstaufnahmeeinrichtungen. Vielleicht stehen die Grünen also vor einem Häutungsprozess wie 1999, als es um den Kosovo-Einsatz ging.

Der Flurschaden ist schon da. Im grünen Stammland Baden-Württemberg sind sie von 32 Prozent auf 22 Prozent abgerutscht – davon muss der Winfried-Kretschmann-Bonus noch abzogen werden. Man kann Zweifel haben, ob Cem Özdemir es ohne Amtsbonus schaffen kann, Kretschmanns Nachfolger zu werden. In Hessen könnte die CDU mit der SPD koalieren, die Grünen in die Opposition und den Realo Tarek Al-Wazir in den Ruhestand schicken. Bei der CDU ist die Versuchung groß, die Schwäche der Grünen zu nutzen und sie migrationspolitisch zu marginalisieren.

Wer das macht, geht aber die Gefahr ein, dass solche Auseinandersetzungen nicht die CDU, sondern am Ende die AfD stärken. Bei allen Unterschieden wird die CDU die Grünen noch für geräuschlos arbeitende Koalitionen brauchen. Meistens ist die Öko-Partei aus jedem Häutungsprozess gestärkt hervorgegangen.