Montag, 5. Juli 2021 Hannover

Gut genutzt ist die Muttersprache eine Superkraft“

Risiko oder Chance? Um die Mehrsprachigkeit von Migrantenkindern gibt es immer wieder Diskussionen. Dabei zeigen Initiativen wie der hannoversche Bildungsverein „Märchenkoffer“, wie die Pflege der Muttersprache die Integration gerade befördert.

 Die fünfjährige Alara aus Hannover wächst viersprachig auf. Mit Mutter Inna spricht sie Russisch, mit Papa Engin Türkisch. Dazu kommen Deutsch und Englisch. Fotos: Samantha FransonHannover. Welche Sprache spricht sie am liebsten? Es ist im Grunde schade, dass die fünfjährige Alara beim Geburtstagsfest des bilingualen Vereins „Märchenkoffer“ an der Rolandstraße im Stadtbezirk Vahrenwald/List ausgerechnet auf eine deutsche Journalistin trifft. Auf Englisch, Türkisch oder Russisch hätte sie die Frage nämlich parieren können. Alara wächst in einer erstaunlich vielsprachigen Familie auf. Mit Mutter Inna Güzelsoy, einer gebürtigen Ukrainerin, spricht sie Russisch, mit dem türkischen Papa Engin, einem Informatiker, Türkisch. Da die Eltern miteinander Englisch sprechen, läuft Englisch – wie die Mutter sagt – „im Hintergrund mit“.Nur Deutsch kann Alara noch nicht so gut. Kein Wunder, die Familie ist erst vor wenigen Monaten nach Hannover gezogen. Dass die Fünfjährige im „Märchenkoffer“, einem hannoverschen Verein für Bildung, Kultur und Integration, auf andere russischsprachige Kinder trifft, mit ihnen redet, spielt, schätzen die Eltern, weil es der Tochter Sicherheit gibt. Weil Alara so kurz vor der Einschulung keinen Kita-Platz mehr bekommen hat, haben die Eltern sie fürs Deutschlernen kurzerhand im Sportverein angemeldet. Verwirren das Mädchen die vielen Sprachen nicht? Mutter Inna schüttelt energisch den Kopf. Kinder lernten Sprachen sehr schnell. Ihre Tochter habe überhaupt kein Problem damit, sagt die 37-Jährige, die selbst Ukrainisch, Russisch, Deutsch und Englisch spricht. Forschungen hätten zudem erwiesen, dass Mehrsprachigkeit die Entwicklung des kindlichen Gehirns fördere. Dass es in Deutschland immer wieder Diskussionen um die Mehrsprachigkeit unter Migranten gibt, versteht die 37-Jährige nicht.Parallelgesellschaften?ehrsprachigkeit unter Migranten ist in Deutschland ein Politikum, vor allem wenn es nicht um in der Schule gelehrte Sprachen wie Englisch oder Französisch, sondern um Türkisch, Russisch oder Arabisch geht. Regelmäßig flammen Diskussionen auf, wenn das Thema zur Sprache kommt. Zumal es bundesweit immer mehr Kita-Kinder gibt, bei denen zu Hause kaum Deutsch gesprochen wird. Laut Bundesfamilienministerium war das Mitte 2020 bei jedem fünften Kita-Kind der Fall. Unter rund 3,2 Millionen Kindern in Kitas gab es damals rund 675 000, in deren Familien vorrangig nicht Deutsch gesprochen wurde. Das Familienministerium machte überdies einen Anstieg fest. 2017 lag der Anteil noch bei 18,7 Prozent. Wenn Kinder kaum Deutsch sprechen könnten, müsse notfalls ihre Einschulung zurückgestellt werden, forderte CDU-Politiker Carsten Linnemann 2019. Linnemann, der „Parallelgesellschaften“ fürchtete, beschwor damit eine Debatte zur Deutschpflicht an Grundschulen herauf.Kritik kommt auch von den Migranten selbst. In Hannover beklagte Ali Faridi, beratendes Mitglied im Internationalen Ausschuss, zuletzt in einer Sitzung im Mai 2020, dass bei Vorschulkindern häufig die deutsche Sprache so schlecht ausgebildet sei, dass man sie in Deutsch unterrichten müsse, bevor sie in die Schule gingen. Faridi kam 1968 aus dem Iran als Student nach Deutschland und wirkte jahrzehntelang in Hannover im Rat der Religionen mit. Früher seien alle Zugewanderten darauf bedacht gewesen, die Landessprache schnellstmöglich zu lernen. Heute fragten sich viele Migranten, vor allem ältere, warum sie Deutsch lernen sollten. Einkaufen könne man in der Muttersprache, es gebe entsprechende Fernsehprogramme, Internet. Schulen und Kitas legten ein zu großes Gewicht auf die Muttersprache, was kontraproduktiv wirke. Eltern sähen sich nicht veranlasst, die deutsche Sprache zu lernen. Grünen-Politikerin und Bürgermeisterin Regine Kramarek pflichtete ihm im Ausschuss bei.

„Haus der Mehrsprachigkeit“

Ist die Pflege der Herkunftssprache also ein Risiko, das die Integration erschwert? Im Gegenteil, sie sei eine Chance, ja eine „Superkraft“, die Migrantenkindern neue Wege eröffne, hält Anna Konopleva, Sozialpädagogin und russische Leiterin des hannoverschen „Märchenkoffers“, an diesem Tag in fließendem Deutsch dagegen. Seit sieben Jahren betreibt die 30-Jährige mit vielen Ehrenamtlichen auf zwei Stockwerken an der Rolandstraße bilinguale Bildungsarbeit, bietet Workshops, Projekte, eine offene Tür an. 402 Kinder nahmen allein 2019 an 31 Workshops teil. Nach Jahren, in denen das Angebot auf deutsch-russische Kinder beschränkt war, bietet der „Märchenkoffer“ jetzt auch Türkisch und Polnisch an. Konopleva träumt von einem „Haus der Mehrsprachigkeit“ in Hannover. Der Verein sei eine Anlaufstelle für Familien mit Migrationshintergrund aus ganz Hannover und biete mit seinem Konzept Perspektiven für ganz Niedersachsen, sagt Konopleva. Doris Schröder-Köpf, Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, versprach am Sonntag Unterstützung für das Projekt. Es sei von großer Bedeutung, dass Kinder die Möglichkeit hätten, ihre Muttersprache zu erhalten und auszubauen. Auch außerschulische Förderung wie die des „Märchenkoffers“ sei sehr wertvoll. Der Grund für den Wunsch nach Expansion im „Märchenkoffer“ ist an diesem Tag unübersehbar. Der Bildungsverein platzt aus allen Nähten. Nicht genug damit, dass man mittlerweile Kinder ablehnen muss. Der Raumnot geschuldet ist auch, dass man die Holzwerkstatt mittlerweile in einer Garage eingerichtet hat.

Was sagen andere Eltern aus dem „Märchenkoffer“? Bietet Mehrsprachigkeit unter Migranten Potenziale oder ist sie ein Problem? Nadine Renz, Projektmanagerin bei Volkswagen, beispielsweise möchte schlicht, dass ihre Kinder sich auch mit älteren Verwandten verständigen können. Renz kam vor 22 Jahren mit ihren Eltern, sogenannten Russlanddeutschen, nach Deutschland. Sie spricht mit Mann und den Kindern Maximilian (12) und Frederik (3) zu Hause Russisch. Draußen, das heißt im Kindergarten oder in der Schule, ist Deutsch angesagt. Jede Sprache sei ein Geschenk, sagt Renz. Ihre Kinder könnten später in den USA oder in Moskau studieren: „Sie haben mehr Chancen im Leben“. Shanna Gartenfluss (36), Mutter von Hannah (5) und Ava (1), ist Jüdin und 1992 als Kontingentflüchtling aus der Ukraine emigriert. Überhaupt nicht bestätigen kann die Juristin, dass die Mehrsprachigkeit der Integration ihrer Kinder schade. „Wir leben so viele Jahre in Deutschland, wir können problemlos die Werte dieses Landes und unsere Muttersprache weitergeben.“

Elisabeth Schilling, Professorin an der Bielefelder Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung, seufzt, wenn man sie auf diese Diskussion anspricht. Die 44-Jährige ist auch Jüdin, kam mit ihrer Familie 1995 als Kontingentflüchtling nach Deutschland. Seit 2007 lebt sie in Hannover, ihr Mann, Jan Schilling, hat in Hannover an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung eine Professur. Es sei wichtig für die Entwicklung der Identität ihrer Kinder, dass sie auch den russischen Teil ihrer Familie lebten, dass da eine zweite Hälfte und keine Leere sei, sagt Schilling. Dass Mehrsprachigkeit unter Migranten der Integration schade, findet sie absurd. „Wir sind so viele Akademiker hier“, sagt sie mit Blick auf andere Eltern im „Märchenkoffer“. „Wir sind gut in unserem Beruf, wir zahlen Steuern“, sagt sie. Dennoch: Die Mutter von Jakob (15) und Clara (8) findet, das Klima gegenüber Migranten hat sich in Hannover verschärft. Im Sommer 2015 hätten die Leute gelächelt, wenn sie gehört hätten, dass sie im Supermarkt mit ihren Kindern Russisch spreche, sagt Schilling. Jetzt sei das nicht mehr so.

„Es geht Wissen verloren“

Profitieren nur Akademikerfamilien vom „Märchenkoffer“? Anna Konopleva bietet auch gesponserte, kostenlose Projekte für Kinder aus prekären Verhältnissen an. Kinder arbeitsloser Eltern, Kinder aus Familien mit berufstätigen Eltern mit niedrigem Bildungsniveau, die nicht Deutsch sprechen, es zum Teil auch nicht lernen wollen, liegen ihr sehr am Herzen. Gerade bei Migrantenkindern aus prekären Verhältnissen sei die Herkunftssprache manchmal das Einzige, was sie hätten, sagt sie. Was meint sie damit? Die Sozialpädagogin erzählt von einem Mädchen, Tochter einer alleinerziehenden Mutter, das aufgrund schwierigster Familienverhältnisse und fehlender Deutschkenntnisse gleich die erste Klasse wiederholen musste. Auch Freunde habe das Mädchen kaum gefunden. „Das Einzige, was sie gut konnte, war Russisch, aber das merkte in der Schule niemand“, sagt Konopleva.

Erst als das Mädchen zum „Märchenkoffer“ stößt, blüht es auf. Hier kann es sich endlich verständigen, fühlt sich akzeptiert. Auf einmal fällt auf, dass es begabt in Mathe ist. Der „Märchenkoffer“ kümmert sich auch um eine Deutschförderung. Heute klappt es auch in der Schule gut. „Wenn man so einem Kind sagt, es soll Deutsch lernen und die Herkunftssprache vergessen, geht ein Riesenstück an Wissen verloren“, sagt Konopleva. Wertgeschätzt und genutzt könne die Muttersprache gerade für Kinder aus prekären Verhältnissen aber unter Umständen die einzige Chance auf einen Einstieg in Bildung und Teilhabe sein.

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