Es muss sich damals schon fast wie ein Quantensprung angefühlt haben, wenn man bedenkt, dass Frauen noch vor etwa einhundert Jahren in Deutschland nicht wählen durften. Ein Studium für Frauen war erst ab dem 29. Februar 1900 im Studiengang Philosophie möglich, und zwar in Heidelberg. Dennoch waren wir zu diesem Zeitpunkt im europäischen Raum das Schlusslicht unter den Ländern, die Frauen den Zugang zur Universität erlaubten.
Wie sieht die Situation an den deutschen Unis heute, 122 Jahre danach aus? Erfreulich ist, dass es viele Studentinnen und ebenso viele Absolventinnen gibt, in manchen Studiengängen sogar mehr als männliche Kommilitonen. Doch richtet man den Blick auf den Frauenanteil bei der Besetzung von Professuren, kehrt Ernüchterung ein. Während in den vergangenen 30 Jahren der Anteil der Studentinnen stetig anstieg und 2019 bereits bei 49,3% lag, so sind lediglich 25% aller Lehrstühle von Professorinnen besetzt.
Sicherlich können wir heute am Weltfrauentag festhalten, dass wir schon viel geschafft haben und es kein Vergleich zu früher ist. Aber gerade heute müssen wir mal ehrlich sein und auch das noch nicht Erreichte beim Namen nennen dürfen, ohne gleich als recht- und machthaberisch, oder gar wie Freud es benannte, als „hysterisch“ abgestempelt zu werden. Die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach kommt in ihrem Buch „Die Erschöpfung der Frauen: Wider die weibliche Verfügbarkeit“ zum Schluss, dass Frauen heute so viele Entscheidungsmöglichkeiten wie noch nie hätten, gleichzeitig aber auch so erschöpft seien wie noch nie zuvor.
Erwartungshaltung an Frauen grenzt an Wahnsinn und Folter
Die Erwartungshaltung an Frauen – permanente Verfügbarkeit, Perfektion, Fruchtbarkeit in Produktion und Reproduktion, in Kombination mit weiblicher Fürsorglichkeit – grenzt an Wahnsinn, ja an Folter. Viele Frauen zerbrechen an der Work-Life-Family-Balance-Challenge. Ob in Familie, Beruf oder Freundschaften – für Harmonie, Ästhetik, Wohlgefühl und vieles mehr scheint nur die Frau verantwortlich zu sein. Dass weder in kapitalistischen noch in antikapitalistischen Systemen für diese Leistungen eine Entlohnung eingeplant ist, stört offenbar nur die wenigsten. Diese allgegenwärtigen Ansprüche, so Schutzbach, treiben Frauen in die Erschöpfung.
Dabei sind viele Frauen schon so weit über sich selbst hinausgewachsen, dass man diese nie mehr wieder „kleinhalten“ oder gar „wegdenken“ kann. Denken wir nur kurz an die Ära Merkel, die ja noch nicht so lange her ist – egal ob für oder gegen, am Ende waren alle ein wenig verängstigt und unsicher wegen dem, was nun nach Merkel kommen würde. Diese Frau hatte es geschafft, dass ein Gefühl der Beständigkeit und Sicherheit entsteht. Als die einstige Kanzlerin 2019 beim Besuch des ukrainischen Präsidenten plötzlich anfing, am ganzen Körper zu zittern, überfiel viele neben der Sorge um die Kanzlerin auch Angst um ihr politisches Wirken, was alle Bürger:innen der Bundesrepublik betroffen hätte. Sie hielt tapfer durch, aber zog sich zurück und verzichtete auf den historischen Eintrag als am längsten amtierende Kanzlerin.
Vielleicht ist dies der entscheidende Unterschied zwischen Frauen und Männern in der demokratischen Politik: Frauen können auch irgendwann aufhören und wissen trotzdem noch etwas mit sich anzufangen, Männer hingegen sind häufig geneigt, wie Isildur aus „Herr der Ringe“, den Ring nicht in den Schicksalsberg Mordor hineinzuwerfen. Am Beispiel von Putin und Co. können wir die heutigen Variationen von Isildurs Erben sehen – die Macht an sich zu reißen und auf Biegen und Brechen nicht teilen oder gar abgeben zu wollen, das ist der politische Irrweg, den alle Narren der Macht leider gehen.
Exzellenz ja, Aufstieg – lieber nein
Wir können heute Mädchen und Frauen nicht auf ein exzellentes Niveau heben, ihnen den Traum von unendlichen Möglichkeiten und Gleichberechtigung vorgaukeln und dann gleichzeitig erwarten, dass sie gerade in Wissenschaft und Politik bitte nicht so eindringlich und aktiv sind. Stellen wir uns doch bitte mal vor, Dr. Özlem Türeci hätte genau das gemacht? Wo ständen wir denn heute ohne den Impfstoff? Man möge sich all die Erfindungen und Entdeckungen von Frauen vergegenwärtigen, die heute für das WLAN, die Medizin und die Technik so essenziell sind. Frauen sind längst in Wissenschaft und Forschung unentbehrlich!
Kristina Lunz beschreibt in ihrem neu erschienenen Buch „Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch. Wie globale Krisen gelöst werden müssen“ eine neue Perspektive auf die Politik. Lunz macht deutlich, welche katastrophalen Auswirkungen männliche, westliche und hegemoniale Dominanz auf die gesamte Welt haben und wie dadurch Bedürfnisse von Frauen und Minderheiten weltweit ignoriert werden. Als Politikwissenschaftlerin und Aktivistin im „Feminist Foreign Policy Center“ ist die Autorin vom Fach. Sie möchte einen Paradigmenwechsel einleiten, bei dem Machtgebaren und militärische Muskelspiele in Mediation und Friedensverhandlungen umgewandelt werden. Realpolitik soll gegen Utopien ausgetauscht werden. So könne das Gegeneinander der Nationen endlich abgelöst werden, und alle könnten in größerer Sicherheit und mit weniger Konflikten leben. Man stelle sich vor, Putin hätte nach diesen Strategien gehandelt. Der Ukraine-Krieg wäre wohl in weiter Ferne und gar keine Option.
Nun, es gibt weltweit leider nicht viele Beispiele des Matriarchats, dafür umso mehr katastrophale Exempel des Patriarchats, sodass sich ein Vergleich eigentlich erübrigt. Fakt ist, dass die globalen Klima- und Hungerkrisen, Fluchtwellen und Kriege nahezu ausschließlich auf fehlgeleiteter männlicher Politik fußen, in der Konsequenz allerdings keinerlei Unterschiede zwischen Religion, Ethnie und Geschlecht machen. Wir haben also nichts zu verlieren, wenn wir die Option nutzen, auch mal Frauen ins Boot zu holen und auf ihre Ideen und Vorschläge zu hören. Mehr noch – vielleicht haben wir also auch wirklich nur gemeinsam eine realistische Chance, Nachhaltigkeit einzubringen und gemeinsam für Frieden zu sorgen, für all jene, die nach uns auf dieser wunderschönen Erde leben werden, egal ob Mann oder Frau.
Hilal Akdeniz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Dialog und Bildung. Die gebürtige Augsburgerin ist Soziologin und forscht zu den Themenkomplexen Flucht, Migration und Gender. Zu ihren Aufgabenbereichen in der Stiftung zählen die Betreuung von wissenschaftlichen Publikationen und die Engagementförderung