Der Fall Altun von Cemal Kemal Altun

Von TAZAus Berlin Tanita Jill Pöggel

 

 

 

Umbenennung oder nicht: Angst vor der Türkei - taz.de

Cemal Kemal Altun bild dpa

 

Vor 40 Jahren starb Cemal Kemal Altun in Berlin, weil die Bundesrepublik Deutschland ihn an das Regime ausliefern wollte, das ihn verfolgte. Sein Schicksal politisierte damals viele und trug zur Entstehung eines Solidaritätsnetzwerks bei, das bis heute existiert

Berlin, 31. August 1983: Auf einem Straßenfest hält jemand die taz mit dem Titel „Cemal Kemal Altun ist tot“ hoch Foto: Ali Paczensky

Aus Berlin Tanita Jill Pöggel

Der Umgang mit Geflüchteten treibt die deutsche Gesellschaft schon länger um. In den letzten zehn Jahren kam es dabei zu einem Rechtsruck, der sich im Erfolg rassistischer Or­ga­ni­sa­tio­nen wie Pegida sowie im Aufstieg der AfD manifestierte; andererseits fanden gleichzeitig bundesweite Gegenmobilisierungen und solidarische Ak­tio­nen mit Geflüchteten statt.

In der öffentlichen Debatte wird diese breite gesellschaftliche Unterstützung vor allem für Geflüchtete aus Syrien 2015 und aus der Ukraine ab 2022 häufig als neuartiges Phänomen betrachtet. Das ist in Bezug auf das Ausmaß der Solidaritätsarbeit sicherlich richtig, vergisst jedoch deren Vorgeschichte. Denn die Mobilisierungen der letzten Jahre waren auch deshalb möglich, weil Geflüchteten- und (post)migrantische Selbstorganisationen, linke Gruppen, Kirchen- und Menschenrechtsorganisationen schon lange an der Etablierung solidarischer Netzwerke gearbeitet hatten.

Angesichts zahlreicher Verschärfungen der westdeutschen Asyl- und Migrationspolitik kam es bereits in den 1980er Jahren zu wichtigen Versuchen, Geflüchtete zu unterstützen und vor Abschiebung zu schützen. Im Zentrum dieser Entwicklung steht das Schicksal von ­Cemal Kemal Altun, der 1983 im Westberliner Verwaltungsgericht Sui­zid beging. Wie kein anderes Ereignis motivierte sein Tod, der sich diesen Monat zum 4o. Mal jährt, die junge Geflüchtetensolidaritätsbewegung in der Bundesrepublik.

Die deutsche Gesellschaft war zu dieser Zeit im Umbruch. 1978 hatte sich in Berlin die Alternative Liste gegründet, 1980 kamen die Grünen, die in den Folgejahren in die Parlamente einzogen. 1980 war das Jahr, in dem die Anti-Atomkraft-Bewegung die „Republik Freies Wendland“ errichtete, ein improvisierte Hüttendorf auf dem Gelände bei Gorleben, das für ein atomares Endlager vorgesehen war.

Gleichzeitig war 1980 auch das Jahr, in dem in Westdeutschland erstmals mehr als 100.000 Asylgesuche gezählt wurden. Die Zahl gingen danach zurück, bis sie infolge des Bosnienkriegs mit über 400.000 Geflüchteten 1992 einen neuen vorläufigen Höhepunkt erreichte.

1980 kamen die meisten Asylanträge von Menschen, die aus der Türkei geflohen waren, wo sich das Militär an die Macht geputscht hatte. So auch Cemal Kemal Altun. Er war als Schüler und Student in linken Gruppen in der Türkei aktiv gewesen und kam 1981 nach Westberlin. Konkreter Anlass für sein Asylgesuch waren Vorwürfe in der türkischen Presse, er sei an der Ermordung des rechtsextremen Politikers Gün Sazak beteiligt gewesen. Die deutschen Behörden informierten die türkische Militärregierung über Altuns Asylantrag, woraufhin Letztere einen Haftbefehl gegen ihn erließ und seine Auslieferung forderte. Trotz des laufenden Asylverfahrens wurde er im Juli 1982 in Berlin-­Moabit in Auslieferungshaft genommen. Statt Altun Schutz zu bieten, bot die BRD ihn, ohne zu zögern, dem Staat an, vor dem er geflohen war. Damit war Altun gleich zwei zermürbenden juristisch-politischen Prozeduren ausgesetzt: einem Asylverfahren auf der einen und einem Auslieferungsverfahren auf der anderen Seite.

Im März 1983 war es dann so weit: Altun sollte nach Frankfurt am Main gebracht werden, um an die Türkei ausgeliefert zu werden. Altuns Rechtsanwalt Wolfgang Wieland, ein Mitgründer der Alternativen Liste, der später für die Grünen Justizsenator in Berlin wurde, versuchte gegen die drohende Auslieferung das Bundesverfassungsgericht anzurufen, welches aufgrund des Sonderstatus von Westberlin jedoch nicht entscheiden wollte.

Die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg nahm seine Beschwerde an, kam aber zu dem Schluss, dass die Auslieferung rechtens sei, solange die Türkei garantiere, dass Altun nach Abbüßung seiner Haftstrafe wieder in die BRD zurückkehren dürfe.

Erst in letzter Minute wurde die Auslieferung ausgesetzt. Nachdem es zu zahlreichen Protesten und Erklärungen bundesweiter Initiativen, Abgeordneter verschiedener europäischer Länder, des UNHCR und Menschenrechtsorganisationen gekommen war, hatte das Europäische Parlament beim Bundesaußenministerium interveniert.

Nach langem Verfahren entschied das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im Juni 1983 schließlich positiv über Altuns Asylantrag. An dem parallel laufenden Auslieferungsverfahren änderte dies jedoch wenig. Ein Versuch von Wieland, gegen Altuns drohende Auslieferung vor dem Berliner Kammergericht zu klagen, scheiterte. Das Gericht ignorierte dabei Altuns Anerkennung als politischer Flüchtling durch das Bundesamt. Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU), der sich ähnlich zur heutigen AfD-Linie grundsätzlich gegen eine angebliche Gefährdung deutscher Homogenität durch Immigration einsetzte, unterstrich derweil die Intention der Bundesregierung, Altun an die Türkei auszuliefern.

Um die Auslieferung rechtlich zu unterstützen, klagte der damalige Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten – eine heute nicht mehr existierende Stelle, die durch das Bundesministerium des Innern besetzt wurde – gegen die positive Entscheidung des Bundesamts. Altun befand sich somit in einer verzweifelten Situation: Trotz offizieller Anerkennung als politischer Flüchtling musste er darum bangen, diesen Status zu behalten, und fürchten, an das türkische Militärregime ausgeliefert zu werden.

Wieland fasste 20 Jahre später beim Gedenken an Altun die Absurdität der Lage so zusammen: „Du wirst in der Türkei politisch verfolgt und erhältst deswegen Schutz bei uns. Dies gilt allerdings erst, nachdem wir dich deinen Verfolgern wieder zwangsweise zugeführt haben.“ Nicht weniger als die Frage, wie viel das deutsche Asylrecht tatsächlich wert ist, stand somit im Fall Altun auf dem Spiel.

Altuns 40. Todestag

Veranstaltungen

Am 30. August gibt es in Berlin zwei Gedenkveranstaltungen. Um 10 Uhr findet im Rahmen der Tagung „40 Jahre Kirchenasyl“ eine Gedenkfeier mit Kranzniederlegung am Denkmal in Berlin, Hardenbergstraße 20, statt. Ab 18.30 Uhr veranstalten verschiedene Künst­le­r*in­nen in Kooperation mit Pro Asyl eine weitere Gedenkfeier.

Ebenfalls am 30. August rufen der niedersächsische Flüchtlingsrat und linke Gruppen zu einer Demo gegen Abschiebungen auf. Neben Altun gilt das Gedenken drei weiteren Todesopfern der deutschen Abschiebepolitik, die ebenfalls am 30. August starben: im Flugzeug, im Polizeigewahrsam und bei einem Fluchtversuch.

Mitten in diesem Hin und Her begann dann der Prozess am Berliner Verwaltungsgericht, der über die Klage gegen Altuns Flüchtlingsstatus entscheiden sollte. Altun hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 13 Monate in Einzelhaft auf seine Auslieferung gewartet. Eine Zusicherung, dass eine Auslieferung im Zeitraum des Gerichtsverfahrens ausgesetzt würde, wurde von der Bundesregierung verweigert. Zu Beginn des zweiten Verhandlungstags, am 30. August 1983, beendete ­Altun sein Leben, indem er aus einem Fenster im sechsten Stock des Verwaltungsgerichts sprang. Er starb im Alter von 23 Jahren.

Der Fall Altun katapultierte wie kein anderes Ereignis das Thema Asyl ins öffentliche Bewusstsein. Das politisch-rechtliche Ringen um Altuns Schicksal war 1983 dauerhaft von öffentlichem Protest begleitet. Bemerkenswert war dabei die Bandbreite an Ak­teur*in­nen, die sich an den Mobilisierungen beteiligten. An vorderster Stelle standen dabei Geflüchtete selbst, vor allem türkische und kurdische Linke, die über Ak­tio­nen wie Protestmärsche, Besetzungen und Hungerstreiks gegen die Auslieferungs- und Abschiebepraxis der BRD protestierten. Unterstützt wurden diese von verschiedenen bewegungslinken Gruppen, der Alternativen Liste beziehungsweise den Grünen, kirchlichen Gruppen sowie Bürger- und Menschenrechtsorganisationen.

Von Beginn an mobilisierte der Fall Altun weit über Westberlin hinaus. „Kemal ist überall, denn Abschiebeknäste sind überall“, sagt der Hamburger Journalist Adil Yiğit, ein damaliger Freund und Genosse von Altun. In verschiedenen westdeutschen Städten gründeten sich Initiativen für die Unterstützung Altuns wie etwa die „Ini­tia­ti­ve für die Freiheit von C. K. Altun in Lübeck“ oder das „Komitee für die Freilassung von Cemal Kemal Altun“ in Hamburg und Westberlin.

Sie versuchten gegenüber Politik und Behörden Druck aufzubauen. Im März 1983 protestierten Abgeordnete der Alternativen Liste und der Grünen in Frankfurt am Main unter der Aufschrift „Diese Abschiebung ist Mord“ gegen die anstehende Auslieferung Altuns. Mitte August 1983 erstattete die deutsche Sektion von Amnesty In­ter­na­tio­nal zusammen mit der Humanistischen Union sowie der Liga für Menschenrechte eine – letztlich erfolglose – Strafanzeige gegen Bundesjustizminister Hans Engelhard (FDP) wegen „Vorbereitung der Verschleppung“.

Die wohl aufsehenerregendste Aktion fand allerdings in Bonn statt, wo sich verschiedene Grünen-Politiker*innen wie Petra Kelly zusammen mit dem Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann, einem Mitglied des „Komitees“ und anderen in einen Metallkäfig sperrten, der am Zaun des Bundeskanzleramts befestigt war. Die Aktion war nicht zuletzt aufgrund der prominenten Teilnahme öffentlichkeitswirksam und schaffte es sogar in die „Tagesschau“.

Einen Höhepunkt erreichten die Protestaktivitäten nach Altuns Suizid. „Solibewegungen sprangen wie Pilze aus dem Boden“, erinnert sich Yiğit. In Hamburg demonstrierten über 3.000 Personen und auch in Frankfurt am Main, Hannover und Dortmund kamen Hunderte für spontane Demonstrationen zusammen. Wenig überraschend fand die größte Mobilisierung in Westberlin statt, wo am 31. August 1983, am Tag nach Altuns Tod, etwa 10.000 Menschen auf die Straße gingen. Auch beim Trauermarsch anlässlich seiner Beerdigung in Berlin-Mariendorf wenige Tage später nahmen etwa 6.000 Menschen teil.

Statt Altun Schutz zu bieten, bot die BRD ihn, ohne zu zögern, dem Staat an, vor dem er geflohen war

Die Titelseite der taz war am Tag nach seinem Tod ganz in Schwarz gehalten. Zu sehen war nur ein schwarz-weißes Porträt von Altun, das wenige Minuten vor seinem Sprung in den Tod aufgenommen worden war, mitsamt der schlichten Überschrift „Cemal Kemal Altun ist tot“. Darunter wurde ein Gedicht von Bertolt Brecht abgedruckt, dass in den darauffolgenden Wochen und Monaten noch unzählige Male zitiert werden sollte:

Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten.“

Diese Demonstrationen und Interventionen rückten die Problematik der Auslieferung – vor allem an die Türkei – in den Mittelpunkt der öffentlichen Kritik. Altuns Schicksal wurde als Sinnbild der potenziell tödlichen Folgen des deutschen Asyl- und Abschiebesystems verstanden. An der Praxis änderte sich jedoch wenig. Allein in den zwei Monaten nach Altuns Tod wurden circa 60 Personen an das türkische Militärregime ausgeliefert.

Über die unmittelbare Mobilisierung hinaus stellte der Fall Altun einen zentralen ­Meilenstein in der Geschichte der Geflüchtetensolidaritätsbewegung in der BRD dar. Zwar waren schon in den Jahren zuvor erste Initiativen und Kampagnen entstanden, etwa der 1981 gegründete erste Flüchtlingsrat in Westberlin.

Altuns Anwalt Wolfgang Wieland war einer der Gründer der Alternativen Liste in Berlin Foto: ­Mrotzkowski

Doch ließen sich insgesamt nur wenige Menschen für die Belange Geflüchteter mobilisieren. Diese hatten seit den späten 1970er Jahren mit immer größeren rechtlichen Hürden vor dem Zugang zum Asylverfahren, mit der wachsenden Gefahr von Abschiebungen sowie mit zahlreichen behördlichen Schikanen von der Einführung der Residenzpflicht bis zur Auszahlung von Sozialhilfe in Sachleistungen und Essensgutscheinen zu kämpfen.

Durch die Solidaritätsarbeit für Altun entstanden erstmals Bündnisse und Kampagnen, denen es gelang, auch eine breitere Öffentlichkeit anzusprechen. So nahmen zahlreiche Menschen Mitte der 1980er Jahre an der „Aktion Wertgutscheine“ teil, die von der Alternativen Liste, linken und kirchlichen Gruppen initiiert worden war. Hier wurden die Einkaufsmarken, mit denen der Alltagskonsum von Asyl­be­wer­be­r*in­nen ­re­gle­men­tiert wurde, gegen Bargeld eingetauscht.

Darüber hinaus blieben viele Netzwerke, die sich im Rahmen der Altun-Solidarität gebildet hatten, weiter aktiv. So löste Altuns plötzlicher Suizid zum Beispiel unter den Gemeindemitgliedern der Berliner Heilig-Kreuz-Kirche, die sich seit Monaten solidarisch gezeigt hatten, Entsetzen aus und motivierte sie dazu, sich der bundesdeutschen Abschiebepolitik aktiver zu widersetzen. Nachdem 1983 das Abschiebeverbot in den Libanon zeitweise ausgesetzt worden war, gewährte die Gemeinde unter ihrem damaligen Pfarrer Jürgen Quandt einer von Abschiebung bedrohten palästinensischen Familie im Gemeindehaus Kirchenasyl.

Es war der Startschuss für die bald bundesweit aktive Kirchen­asylbewegung, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einem wichtigen zivilgesellschaftlichen Korrektiv der bundesdeutschen Asylpolitik wurde. Das Kirchenasyl ersetzt keinen rechtlichen Flüchtlingsschutz, kann aber Abschiebungen in der Regel verzögern oder verhindern. Seit den Anfängen in den 1980er Jahren konnten bereits Tausende Geflüchtete auf diese Weise Schutz vor drohenden Abschiebungen finden. Seit 2014 ist die Zahl der dokumentierten Kirchenasyle in Deutschland stark gestiegen, wobei sogenannte Dublin-Fälle – also die jener Personen, die in andere EU-Staaten „rückgeführt“ werden sollen – einen großen Anteil ausmachen. Aktuell werden über 650 Personen in ganz Deutschland vor Abschiebung geschützt.

Der Fall Altun katapultierte wie kein anderes Ereignis das Thema Asyl ins öffentliche Bewusstsein

Neben der Kirchenasylbewegung entstanden auch weitere Versuche, Geflüchteten direkten Schutz vor Abschiebung zu bieten. In Zusammenarbeit mit Kirchen- und Menschenrechtsorganisationen etablierten vor allem linke Gruppen „freie Flüchtlingsstädte“ und „Fluchtburgen“. Unter dem Motto: „Wo Abschiebungen zu Recht werden, wird Widerstand zur Pflicht“, wurde hier in Städten wie Westberlin, Bremen und Oldenburg praktische Unterstützung zum Beispiel über Unterbringungsmöglichkeiten für abschiebungsgefährdete Geflüchtete organisiert. Sie waren somit wichtige Vorläufer heutiger Ini­tia­ti­ven wie der „Solidarity Cities“ oder „Sicheren Häfen“, zu denen sich aktuell 321 Städte in Deutschland erklärt haben.

Auch für die Gründung der bis heute bundesweit tätigen Organisation Pro Asyl im Jahr 1986 stellte der Fall Altun einen zentralen Referenzpunkt dar. Im Jahr 2002 erklärte die Organisation den 30. August – Altuns Todestag – zum bundesweiten Gedenktag für die Todesopfer in Abschiebungshaft, an dem seither regelmäßig gegen die deutsche und europäische Migrations- und Abschiebepolitik demonstriert wird. Das Gedenken stellt Altuns Schicksal explizit in den Kontext einer umfangreichen Gewaltgeschichte des bis heute ungebrochenen deutschen Abschiebungsregimes.

Die Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin listet für die Jahre 1993 bis 2021 415 Fälle auf, in denen Menschen sich angesichts ihrer drohenden Abschiebung das Leben nahmen oder beim Versuch starben, vor ihrer Abschiebung zu fliehen. Zusätzlich starben fünf Geflüchtete während ihrer Abschiebung. Die meisten von ihnen bleiben bis heute unbekannt.

In den letzten Jahrzehnten gab es verschiedene Versuche, das Erinnern an Altun wachzuhalten. Kurz nach seinem Tod sprühte eine unbekannte Person im Hamburger Stadtteil Ottensen den Namen „Kemal-Altun-Platz“ an eine Plakatwand. Auch in Kassel wurde 1988 in Anwesenheit von Altuns Bruder ein Platz in der Nordstadt von Ak­ti­vis­t*in­nen als „Kemal-Altun-Platz“ eingeweiht.Cemal Kemal Altun bei der Asylanhörung am 30. August 1983 in Berlin Foto: Elke Bruhn-Hoffmann/ap/picture alliance

Doch vergleichbar mit zahlreichen anderen Gedenkinitiativen hat sich die offizielle Anerkennung in beiden Städten als zäh erwiesen. Auch wenn sich der Hamburger „Kemal-Altun-Platz“ über die Jahrzehnte eingebürgert hat und mittlerweile entsprechend ausgeschildert wird, erkennt die Stadtverwaltung die Namensgebung bis heute nicht offiziell an. In Kassel trägt der Kemal-Altun-Platz seinen Namen erst seit Januar 2021 offiziell.

Ähnlich sieht es in Berlin aus: Auf Anregung der Internationalen Liga für Menschenrechte hatte die Bezirksverordnetenversammlung in Berlin-Charlottenburg bereits 1988 beschlossen, eine Gedenktafel vor dem Gerichtsgebäude, wo Altun gestorben war, anzubringen. Nach zähen Abstimmungen wurde erst 1996 ein vom Bildhauer ­Akbar Behkalam erstelltes Denkmal von der damaligen Bezirksbürgermeisterin Monika Wissel (SPD) enthüllt.

Das Gedenken an Cemal Kemal Altun hat nichts von seiner Bedeutsamkeit verloren. Angesichts des weltweiten Einflussgewinns autoritärer Regime ist der Schutz vor Abschiebung und Auslieferung dringender denn je. Gleichzeitig herrscht in Deutschland ein rassistisches Klima, in dem die meisten politischen Parteien sich mit Vorschlägen zur Einschränkung asylrechtlicher Mindeststandards überbieten. Allein im ersten Halbjahr 2023 wurden 7.861 Personen abgeschoben. „Es ist unverschämt, dass die Abschiebeknäste wieder voll sind. Es ist unverschämt für die deutsche Geschichte“, sagt Yiğit.

Der Fall Altun mahnt an die ungebrochene Gewaltgeschichte deutscher Abschiebepolitik. Gleichzeitig erinnert er daran, wie wichtig es ist, dauerhafte Solidaritätsnetzwerke zu etablieren. Denn, so Yiğit, „wäre die Solibewegung vor seinem Tod so groß gewesen wie danach, hätte seine Abschiebung verhindert werden können“.

Tanita Jill Pöggel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin. Sie promovierte über die Geflüchtetensolidaritätsbewegung in der BRD von den 1980er Jahren bis zum „Asylkompromiss“ von 1992/93.