Tagesspiegel

Verstößt London gegen internationales Recht?: Großbritannien will alle Bootsflüchtlinge ausweisen

Von Peter Nonnenmacher

 

Ein Gesetzentwurf der britischen Regierung sieht vor, illegal Eingereisten Asyl zu verwehren und sie nach Ruanda abzuschieben. Die Umsetzung ist unklar, die Opposition vermutet populistischen Wählerfang.

Die britische Regierung will Bootsflüchtlingen, die in Großbritannien Zuflucht suchen, künftig kein Asylrecht mehr gewähren. Wer von nun an über den Ärmelkanal setzt, soll als „illegaler Migrant“ eingestuft und umgehend nach Ruanda oder in ein anderes Land deportiert werden, ohne die Chance, um Asyl nachzusuchen im Vereinigten Königreich.

Ein entsprechendes Gesetz wurde am Dienstag von Innenministerin Suella Braverman im Unterhaus eingebracht. Es soll, sobald es verabschiedet ist, rückwirkend für alle Flüchtlinge gelten, die von dieser Woche an „unrechtmäßig“ in England eintreffen. Auf diese Weise hofft die Regierung einen „letzten Ansturm“ zu verhindern, bevor das Gesetz in Kraft treten kann.

Die Gesetzesvorlage verpflichtet das Innenministerium zur umgehenden Abschiebung so gut wie aller „illegal“ ins Land kommenden Erwachsenen. Vorgesehen ist die Internierung der Betreffenden für die Dauer von vier Wochen und ihre Deportation entweder nach Ruanda oder in andere „sichere“ Regionen der Welt.

Gerichte dürfen nicht angerufen werden

Weder sollen die Ankömmlinge Asyl beantragen, noch sollen sie auf die bislang übliche Weise britische Gerichte anrufen können. Eine Rückkehr nach Großbritannien, nach ihrer Deportation, wird ihnen bei Strafe verboten sein.

Selbst Ministerin Braverman, die dem Parlament das Gesetz jetzt vorlegte, ist sich bewusst, dass es „an die Grenzen internationalen Rechts stößt“. Auch in den Reihen der Konservativen Partei, deren rechten Flügel Braverman repräsentiert, ist die Besorgnis laut geworden, dass die britische Initiative unvereinbar sein könnte mit der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Braverman hatte sich in der Vergangenheit bereits dafür ausgesprochen, der Menschenrechtskonvention ganz einfach den Rücken zu kehren. Diesmal liess sie offen, ob es dazu kommen würde oder nicht.

Sir Robert Neill, der konservative Vorsitzende des Justizausschusses des Unterhauses, hatte dazu erklärt, es sei ja wohl kaum anzunehmen, dass sein Land den Europa-Rat verlassen würde – „um sich an der Seite von Russland und Belarus wiederzufinden“. Der frühere Tory-Justizminister Sir Robert Buckland meinte, für so etwas gebe es „keine Mehrheit im Parlament“.

Der Mythos von der Kontrolle

Eine Wahl bleibe ihrem Land in der jetzigen Situation jedenfalls nicht, meinte Ministerin Braverman: „Wir müssen diese Boote stoppen, und das machen wir mit diesem Gesetz.“ Man dürfe sich in Westminster „nicht länger vor schwierigen Entscheidungen drücken“, sagte sie. „Wer auf illegale Weise hierher kommt, dem kann es nicht erlaubt sein, hier zu bleiben bei uns.“

Dieselbe Überzeugung äußerte Premierminister Rishi Sunak, der „das Stoppen der Boote“ bereits zu einer der Top-Prioritäten seiner Amtszeit erklärt hatte. Auf diese Weise, sagte Sunak, werde man dem Brexit-Versprechen gerecht, sich „wieder die Kontrolle über unsere Grenzen anzueignen – und zwar ein für allemal“.

Es gebe genug Möglichkeiten für Flüchtlinge, über eins der offiziellen Flüchtlingsprogramme Londons aus gewissen Krisengebieten „legal“ nach Großbritannien einzureisen, fügte Sunak an. Eine Obergrenze für die Zahl dieser regulär Akzeptierten soll jährlich festgelegt werden vom Parlament.

Das halten Oppositions-Politiker, Flüchtlings-Verbände und Rotkreuz-Sprecher aber für Augenwischerei. Die meisten Menschen, die aus Krisengebieten flüchteten, habe gar keine andere Möglichkeit, als sich auf eigene Faust einen Weg auf die Insel zu suchen, klagen die Kritiker Sunaks und Bravermans.

Etwas wie einen illegalen Asylsuchenden gibt es gar nicht.

Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen

Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen warnte die britische Regierung bereits, sie sei dabei, mit ihrem Gesetz „gegen die Flüchtlingskonvention zu verstoßen“. Jeder Mensch habe das Recht, sich vor Verfolgung in einem Land in ein anderes zu retten: „Etwas wie einen illegalen Asylsuchenden gibt es gar nicht.“

Zwei Drittel der Migranten bekamen bisher Asyl

Der britische Flüchtlingsrat verwies darauf, dass von den über den Kanal nach England kommenden „Migranten“ gegenwärtig mehr als zwei Drittel Asylrecht erhielten. Es sei „unglaublich“, dass die Regierung Hilfesuchenden diesen Fluchtweg versperre, meinte der Ratsvorsitzende Enver Solomon.

Das neue Gesetz werde im übrigen „keine Boote zum Halten bringen, sondern dazu führen, dass Zehntausende interniert werden, unter enormen Kosten, dass sie permanent in der Luft hängen, von aller Welt vergessen, und wie Kriminelle behandelt werden, nur weil sie Zuflucht gesucht haben“, sagte Salomon.

In der Tat hat Großbritannien kaum ein Abkommen mit Staaten, das die Deportation oder die Rückführung von Flüchtlingen erlauben würde. Ein mit Ruanda getroffenes Abkommen sieht vor, dass der afrikanische Staat 200 Personen pro Jahr auf die Dauer von fünf Jahren aufnehmen würde. Die Zahl der in England angelandeten Boots-Flüchtlinge im Vorjahr betrug aber bereits 46.000. Für dieses Jahr rechnet man mit 65.000 bis 80.000 „illegalen Migranten“ auf dem Kanal.

97
Prozent der Asylanträge in England von 2022 wurden noch nicht behandelt.

Praktisch würde das bedeuten, dass Zehntausende von Neuankömmlingen in Lagern festgehalten werden müssten, bis eine Lösung für ihre Abschiebung gefunden wäre. Zusätzliche Probleme ergeben sich daraus, dass die Asylbehörden seit Jahren nicht mehr nachkommen mit der Bearbeitung der – bis gestern noch erlaubten – Anträge auf Asyl.

Rund 160.000 Bewerber insgesamt warten derzeit auf den individuellen Bescheid, ohne den sie sich nicht frei bewegen und keine Arbeit annehmen können. Von den seit 2018 eingereichten Anträgen liegen bis heute 83 Prozent, von denen des vergangenen Jahres noch 97 Prozent „auf Eis“.

Sinnvoll wäre es in dieser Hinsicht gewesen, die Antrags-Bearbeitung zu beschleunigen, erklärte dazu die oppositionelle Labour Party. Der Labour-Vorsitzende Sir Keir Starmer nannte das neue Gesetz „völlig unanwendbar“ und bezweifelte seine Legalität.

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Starmer warf den Konservativen auch vor, die Gesetzesvorlage eingebracht zu haben, um sich mit populistischen Parolen Wähler-Sympathien zu verschaffen. Jüngsten Umfragen zufolge hält rund die Hälfte britischer Wähler es für eine gute Idee, „illegalen Migranten“ den Zugang zur Insel zu verwehren. Nur etwa ein Drittel hält dieses Vorgehen für falsch.

So haben Sunak und die Tory-Rechte hinter Braverman ihre Anti-Flüchtlings-Rhetorik sukzessive gesteigert. Braverman hatte schon im Vorjahr von einer regelrechten „Invasion“ an der Südküste Englands gesprochen. Bei ihrem Auftritt im Unterhaus an diesem Dienstag rief sie den Abgeordneten zu, es gebe „rund um die Erde hundert Millionen Menschen, die Anspruch auf Aufnahme geltend machen könnten unter unseren jetzigen Gesetzen. Und reden wir doch Klartext – die kommen hierher!