Nach Syrien und Afghanistan sind Staatsangehörige aus der Türkei die drittgrößte Gruppe der Antragsteller auf Asyl in Deutschland. Die repressive türkische Politik treibt vor allem auch Kurden zur Flucht.

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Das Ehepaar Gülay und Kazim aus der Türkei ist diesen Januar nach Deutschland eingereist – ohne Visum, unerlaubt. Mehr als siebentausend Euro pro Person haben sie den Schleusern bezahlt, die sie dann irgendwo an der Grenze zu Deutschland, in Bayern abgesetzt haben.

Die beiden sind türkische Staatsbürger, gehören zur kurdischen Minderheit. Sie kommen aus der Provinz Tunceli in Ostanatolien. Derzeit sind sie in einem Ankerzentrum in Oberbayern untergebracht. Sie wollen in Deutschland bleiben, haben hier Asyl beantragt. Nach eigenen Angaben hatten sie in der Türkei Angst um ihr Leben: "Wir haben keine Rechte. Wir können nichts kritisieren. Du kannst Unrecht nicht kritisieren. Das, was hier unter Meinungsfreiheit fällt, ist dort eine Straftat. Sie bestrafen und inhaftieren dich", sagt der Ehemann Kazim.

Türkei: "Demokratie existiert nur noch als Fassade"

Für die Türkei-Expertin Ulrike Flader von der Universität Bremen ist die Sorge des Ehepaars nicht unbegründet. Sie forscht zum "sanften Autoritarismus" in der Türkei und zur sogenannten "kurdischen Frage". Die Situation in der Türkei sei besorgniserregend, denn die Demokratie würde mehr und mehr abgebaut, sagt Flader.

"Die Demokratie existiert nur noch als Fassade. Menschenrechte sind extrem eingeschränkt, die grunddemokratischen Freiheiten werden nicht eingehalten. Versammlungsfreiheit ist eingeschränkt, Meinungs- und Pressefreiheit existieren quasi gar nicht mehr und die Justiz ist quasi zum Parteiorgan geworden, so dass faire Gerichtsverfahren gar nicht mehr existieren. Es ist ein willkürliches System geworden." Ulrike Flader

Die Türkei-Kennerin ist nicht überrascht, dass immer mehr türkische Staatsbürger ihre Heimat verlassen. Das Leben in der Türkei sei für viele von Repression und Willkür geprägt.

Türkisches Desinformationsgesetz

Vor allem das im Oktober vergangenen Jahres verabschiedete sogenannte Desinformationsgesetz sei ein weiteres Instrument, um die Meinungsfreiheit einzuschränken, so Flader. Darin richtet sich der Artikel 29 gegen falsche Informationen, die geeignet seien, den "inneren Frieden der Türkei" zu stören. Konkret genannt werden Falschinformationen über die Sicherheit des Landes, seine öffentliche Ordnung oder die allgemeine Gesundheit. Es können Haftstrafen von bis zu drei Jahren verhängt werden.

Das Gesetz habe die Lage für alle unsicherer gemacht, die in irgendeiner Form öffentlich Informationen austauschen – insbesondere, wenn sie sich kritisch äußern oder auf Missstände hinweisen, sagt Laura Kunzendorf von der Nichtregierungsorganisation "Media and Law Studies Association".

Denn es gebe Interpretationsspielraum, was als Falschinformation oder irreführende Informationen angesehen werde. Die Anwendung des Gesetzes sei nicht gut vorhersehbar: "Es ist denkbar, dass die Prioritäten der Regierung beeinflussen, wer unter dem neuen Desinformationsgesetz angeklagt wird. Das betrifft dann nicht nur Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, wie Politiker oder Journalisten, sondern auch Nutzer von sozialen Medien. Prinzipiell können alle Meinungsäußerungen ein Risiko sein, die von den Behörden als eine Bedrohung angesehen werden."

Druck auf politische Opposition

Frei reden, sich kritisch äußern sei für sie als Kurden kaum möglich, sogar äußerst gefährlich – sagen Gülay und Kazim, da sie immer unter Generalverdacht stünden, mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sympathisieren und Terroristen zu unterstützen. Aber auch wenn Akademiker oder Studierende auf die Straße gehen und demonstrieren, werde allen eine Nähe zur PKK vorgeworfen, um so ihre Kritik zu diskreditieren, sagt Ulrike Flader. Solche Vorwürfe dann vor Gericht zu widerlegen, sei sehr schwer.

Die 43-jährige Gülay ist seit Jahren in der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP aktiv. Jedoch sei Oppositionsarbeit fast nicht mehr möglich. Dass Parteianhänger und Politiker zunehmend ins Visier der Regierung geraten, stellen auch Menschenrechtsorganisationen fest. Ein Beispiel ist das Urteil gegen den Istanbuler Bürgermeister und möglichen Erdogan-Herausforderer, Ekrem Imamoglu von der kemalistischen CHP. Dem Politiker wird zur Last gelegt, Beamte öffentlich beleidigt zu haben. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten, zudem wurde ein Politikverbot gegen ihn verhängt.

Laura Kunzendorf nennt als weiteres Beispiel das Verbotsverfahren gegen die HDP: "Die Entscheidung steht zwar noch aus, aber es geht darin auch nicht nur um die Schließung der Partei, sondern es könnte zu einem Verbot der politischen Betätigung für 678 Politiker über fünf Jahre kommen."

Raus aus der Türkei

Gülay und Kazim haben für sich keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als die Türkei - ihre Heimat - zu verlassen. Sie sehen in Deutschland ihre Chance auf ein freies Leben: "Ich habe mich für Deutschland entschieden, weil ich das Land sowohl politisch als auch in vieler Hinsicht mir nahe sehe. Zum Beispiel bei der Wertschätzung für Frauen, für Tiere, für die Umwelt", sagt Gülay.

Die beiden sind nicht alleine auf der Flucht aus der Türkei. Laut Bundespolizei wurden letztes Jahr 9.100 unerlaubte Einreisen von türkischen Staatsangehörigen festgestellt. Im Vorjahr waren es knapp 2.500. Damit ist die Türkei nach Syrien und Afghanistan das drittstärkste Herkunftsland.

Genau diese Reihenfolge spiegelt sich auch bei den Asylanträgen wieder. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge haben letztes Jahr 23.938 türkische Staatsangehörige Asyl-Erstanträge gestellt – ein Zuwachs von mehr als 230 Prozent im Vergleich zu 2021.

Gülay und Kazim hoffen, dass ihre Asylanträge akzeptiert werden. Sie fürchten, dass, sollte Recep Tayyip Erdogan die kommenden Wahlen gewinnen, sich das politische Klima noch verschärfen wird – zu ihren Ungunsten.