Wäre völlig absurd, Beate Zschäpe als Aussteigerin zu betrachten“

Artikel von Frederik Schindler

 NSU-Terroristin Beate Zschäpe und ihr Helfer André Eminger wollen angeblich die Neonazi-Szene und deren Ideologie hinter sich lassen. Ein Ausstiegsbegleiter sagt, warum er an einem Gewinnungswechsel der Rechtsextremisten zweifelt. Und erklärt, was einen gelungenen Ausstieg ausmacht.

Beate Zschäpe wurde im Juli 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt, die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt picture alliance/dpa

Beate Zschäpe wurde im Juli 2018 zu lebenslanger Haft verurteilt, die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt picture alliance/dpa © Bereitgestellt von WELT

 

 

Henning Scholz ist Ausstiegsbegleiter und politischer Bildner. Er ist Mitarbeiter der Beratungsstelle Kurswechsel, die aus Geldern des Bundes und des Landes Hamburg finanziert wird. Scholz verwendet zum Schutz seiner Person ein Pseudonym. Seine Identität ist der Redaktion bekannt.

WELT: Herr Scholz, die in Chemnitz inhaftierte und wegen zehnfachen Mordes verurteilte NSU-Terroristin Beate Zschäpe will angeblich aus der rechtsextremen Szene aussteigen und hat einen Platz in einem Aussteigerprogramm beantragt. Wie bewerten Sie das?

Henning Scholz: Ein Ausstieg ist immer eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst. Zwischen der Meldung bei einem Aussteigerprogramm und einem wirklichen Ausstieg aus der Szene und

Ideologie können mehrere Jahre vergehen. Es wäre völlig absurd, Zschäpe als Aussteigerin zu betrachten.

Es hat noch keinerlei tatsächliche Verantwortungsübernahme und Empathiebekundung gegenüber den Hinterbliebenen der NSU-Opfer stattgefunden, die bis heute um vollständige Aufklärung der Morde und Sprengstoffanschläge kämpfen.

WELT: Die Verantwortlichen in der Justizvollzugsanstalt sind offenbar skeptisch. Sie haben entschieden, dass die Zeit noch nicht reif sei und die hausinterne Sozialtherapie für Zschäpe weiter fortgeschritten sein müsse.

Scholz: Das erscheint aus der Distanz sinnvoll. Klienten, die wir im Strafvollzug begleiten und bei denen kein tatsächliches Interesse an einer Auseinandersetzung erkennbar ist, verweisen wir auch zunächst auf die Sozialtherapie im Gefängnis.

WELT: Der engste Vertraute der NSU-Terrorgruppe im Untergrund, der Neonazi André Eminger, befindet sich seit Sommer 2022 im sächsischen Aussteigerprogramm. Eminger konnte Oberlandesgericht München überzeugen, dass es ihm ernst sei – die Reststrafe von zehn Monaten wurde ihm dafür erlassen.

Scholz: Das halte ich für sehr problematisch. Ein Ausstieg ist nicht mit dem Entfernen rechtsextremer Tattoos oder der Aufnahme in ein Aussteigerprogramm abgeschlossen. Es ist ein sehr herausfordernder Prozess, welcher von beiden Seiten jederzeit abgebrochen werden kann. Eminger als Aussteiger zu bewerten, halte ich für sehr gewagt.

 

 

 

NSU-Helfer André Eminger im März 2015 vor dem Oberlandesgericht München imago images/ZUMA Wire

NSU-Helfer André Eminger im März 2015 vor dem Oberlandesgericht München imago images/ZUMA Wire © Bereitgestellt von WELT

WELT: Eminger relativierte bei seiner Befragung im NSU-Untersuchungsausschuss des Bayerischen

andtags im Juni seine Schuld und stellte sich als unwissender, ausgenutzter Helfer dar. Er sei kein „völkischer Nazi“ gewesen, sondern nur an Konzerten und Besäufnissen interessiert.

Scholz: Das zeigt, dass noch keine Auseinandersetzung mit menschenverachtenden Einstellungen und Taten stattgefunden hat. Dies wäre für einen tatsächlichen Ausstieg zentral. Eminger ist kein geläuterter Neonazi, der aus Versehen in diese Szene gekommen ist.

WELT: Eminger wurde im NSU-Prozess von seinem Anwalt als „Nationalsozialist mit Haut und Haaren“ beschrieben, grinste dort ständig die Hinterbliebenen der Opfer an. Bereits seit Mitte der 1990er-Jahre gehörte er der Neonazi-Szene an. Wie wahrscheinlich ist ein glaubwürdiger Ausstieg nach einer derart langen Zeit?

Scholz: Natürlich ist das möglich. Jeder Mensch muss die Chance erhalten, sich verändern zu können. Das muss bei so gefestigten Neonazi-Kadern wie Zschäpe und Eminger aber viel allumfänglicher passieren. Da haben wir als Beratungsstelle auch eine hohe politische und gesellschaftliche Verantwortung.

WELT: Welche Interessen können im Zwangskontext Gefängnis hinter einer Kontaktaufnahme mit einem Aussteigerprogramm stecken?

Scholz: Viele erhoffen sich Hafterleichterungen oder eine frühere Entlassung. Wir führen im Kontext Gefängnis zunächst eine Interventionsberatung mit fünf bis zehn Gesprächen durch, in denen wir den Menschen und seine Biografie sowie Hintergründe kennenlernen. Erst danach kann es zu einem Distanzierungs- und Ausstiegsprozess kommen, mit offenem Ausgang.

WELT: Wie läuft ein solcher Prozess?

 

 

 

Scholz: Unser Schwerpunkt ist die Aufarbeitung der Ideologie und Taten. Welche rassistischen oder antisemitischen Einstellungen vertritt die Person? In welchen Strukturen war sie unterwegs? Wer war für sie wichtig? Stimmen die Schilderungen mit Ermittlungsergebnissen und anderen Recherchen überein? In regelmäßigen Sitzungen sprechen wir etwa auch über typische Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder oder die Gewaltbereitschaft, die die Klienten mitbringen.

WELT: Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit Sie von einem gelungenen Ausstieg aus der extremen Rechten ausgehen?

Scholz: Ein gelungener Ausstieg ist das Ergebnis eines professionell begleiteten Prozesses, der die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der menschenverachtenden Einstellung behandelt. Eine gelungene Distanzierung geht mit der Hinwendung zu einer Lebensweise einher, die mit den Grundwerten von Demokratie und Pluralität vereinbar ist und auf Gewalt verzichtet.

WELT: Wie wichtig ist das Auspacken über die ehemaligen Gesinnungsgenossen?

Scholz: Natürlich ist es zentral, darüber zu sprechen, welche Personen die Klienten beeinflusst und geprägt haben, mit wem sie sich ideologisch gefestigt haben, welche Straftaten sie mitbekommen haben. Das hat nicht zwangsläufig etwas mit Auspacken zu tun. Diese Menschen waren zentral im Leben der Ausstiegswilligen. Es ist logisch, dass wir über deren Rolle sprechen müssen.

WELT: Das kann auch gefährlich werden.

Scholz: Wir empfehlen unseren Klienten grundsätzlich einen leisen und langsamen Ausstieg.

WELT: Beate Zschäpe hatte während des Gerichtsprozesses in München jahrelang geschwiegen und auch in einer späten Einlassung keine Unterstützer verraten.

Scholz: Das ist ein Zeichen dafür, dass zumindest damals kein Veränderungswille da war. Der Prozess ist nun seit mehreren Jahren abgeschlossen. In dieser Zeit wäre es grundsätzlich möglich, dass sich ein Ausstiegswillen entwickelt hat. Ihre Aussage vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags lässt allerdings nicht darauf schließen, dass sich etwas verändert hat.

WELT: Zschäpe, die bereits lange vor ihrer Zeit im Untergrund prägendes Mitglied der neonazistischen Kameradschaft Jena war, gab sich bei der Befragung des Ausschusses in ihrer Haftanstalt im Mai dieses Jahres unwissend. In den Untergrund sei sie quasi versehentlich gegangen, nicht einmal das Bekennervideo will sie gekannt haben. Sie gestand zwar eine Mitschuld ein, redete diese aber zugleich klein. Aufklärung zu Unterstützern und Waffen leistete sie nicht.

Scholz: Wir erleben es sehr häufig, dass Klienten behaupten, sie seien in die extrem rechte Szene hereingerutscht. Zschäpe hat entschieden, diese Ideologie zu vertreten und schwerste Straftaten zu begehen. Ihre Wortwahl zeigt sehr deutlich, dass sie sich noch nicht wirklich mit ihrer Einstellung und ihrer Verantwortung auseinandergesetzt hat