Neues Einwanderungsgesetz Wie Deutschland Fachkräfte anwerben will
Stand: 23.06.2023 04:38 Uhr Tageschau
Chancenkarte, Punktesystem, Spurwechsel - und weniger Bürokratie: Arbeitskräfte aus dem Ausland sollen leichter einwandern und damit mehr Lust auf Deutschland bekommen. Was die Ampel plant - und welche Kritik es gibt.
Der Bundestag hat eine Reform des Einwanderungsrechts für Arbeitskräfte aus Staaten außerhalb der Europäischen Union (EU) beschlossen. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP will damit mehr Arbeitskräfte aus Drittstaaten anziehen, um den Fach- und Arbeitskräftemangel in Deutschland zu lindern. 388 Abgeordnete stimmten für die Reform, 234 dagegen, 31 enthielten sich. Union und AfD hatten ihre Ablehnung angekündigt, die Linkspartei Enthaltung.
Die Ausgangslage
Schon heute fehlen in Deutschland hunderttausende Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt und die demografische Entwicklung verschärft das Problem noch. Arbeitsminister Hubertus Heil befürchtet bis 2035 eine Lücke von sieben Millionen Arbeits- und Fachkräften. Wenn es so weiter geht, könnte Deutschland schon bald arm dran sein. Zumal es ja nicht so ist, dass hoch qualifizierte und international vernetzte Menschen Schlange stehen, um nach Deutschland kommen zu dürfen. Junge Spitzenkräfte aus Asien, Afrika oder Lateinamerika zieht es eher in die USA oder Kanada - nicht nur der Sprache wegen.
Deutschland muss attraktiver werden für Fachkräfte aus Nicht-EU-Staaten, weniger bürokratisch, mehr Willkommenskultur. Gelingen soll dies auch mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz, auf das sich die Ampelkoalition geeinigt hat und über das der Bundestag nun abschließend berät. Die wichtigsten Bestandteile - von Punktesystem bis Spurwechsel. Und warum es auch Kritik an den Plänen gibt.
Was ändert sich bei der "Blauen Karte"?
Zentrales Element der Fachkräfteeinwanderung soll die in Deutschland seit 2012 etablierte "Blaue Karte EU" (EU Blue Card) bleiben. Sie ist eine Aufenthaltsgenehmigung für Menschen aus dem Nicht-EU-Ausland, die ein Hochschulstudium absolviert haben. Hier sollen aber die bisher geltenden Gehaltsschwellen zur Aufnahme einer Arbeit in Deutschland spürbar abgesenkt werden - und zwar auf 43.800 Euro brutto jährlich, was 3650 Euro monatlich wären. Zuvor lag die Mindestgehaltgrenze bei 58.400 Euro brutto.
Besitzern einer solchen Karte soll außerdem der Arbeitgeberwechsel, der Familiennachzug und die Erlaubnis zum dauerhaften Aufenthaltsrecht in der EU erleichtert werden. Darüber hinaus sollen Fachkräfte laut dem Gesetzentwurf "jede qualifizierte Beschäftigung ausüben können" - also auch außerhalb ihrer ursprünglichen Qualifikation. Eine als Kauffrau für Büromanagement anerkannte Fachkraft könnte etwa im Bereich Logistik als Fachkraft beschäftigt werden. Speziell für IT-Spezialisten ist vorgesehen, dass sie eine "Blaue Karte EU" auch ohne Hochschulabschluss erhalten können, wenn sie andere Qualifikationen nachweisen können.
Welche Rolle spielt Berufserfahrung?
Sie soll stärker als bisher zur Einreise berechtigen. Voraussetzung sind mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und ein im Herkunftsland staatlich anerkannter Berufsabschluss. In Deutschland muss der Abschluss noch nicht anerkannt sein. Das bedeutet eine deutliche Vereinfachung. Es wird ein Mindestgehalt festgelegt. Wer diese Gehaltsschwelle nicht erreicht, muss seinen Berufsabschluss in Deutschland anerkennen lassen. Neu ist, dass die Person bereits in Deutschland arbeiten darf, während das Anerkennungsverfahren noch läuft - wenn sich der Arbeitgeber verpflichtet, die Arbeitskraft für eine notwendige Qualifikation freizustellen.
Zur Ausbildung oder dem Studium nach Deutschland?
Stärken wollen die Ampel-Parteien auch die Bildungsmigration - also die Möglichkeit, für eine Berufsausbildung oder ein Studium nach Deutschland zu kommen, um dauerhaft zu bleiben. Das soll etwa dadurch geschehen, dass ausländische Studierende hierzulande als Werkstudenten arbeiten können, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zudem soll der Aufenthalt zur Ausbildungsplatzsuche erheblich erleichtert werden, indem das Höchstalter, bis zu dem ein Aufenthaltstitel erteilt werden kann, heraufgesetzt wird. Die zulässige Höchstaufenthaltsdauer eines Aufenthaltstitels soll auf neun Monate erhöht und Beschäftigungen sowie Probebeschäftigungen zugelassen werden.
Wie soll das Punktesystem funktionieren?
Für Menschen mit einer ausländischen, mindestens zweijährigen Berufsausbildung oder einem Hochschulabschluss soll zur Arbeitssuche eine "Chancenkarte" auf Basis eines Punktesystems eingeführt werden. Ein ähnliches Modell wird in Kanada angewandt. Für zwölf Kriterien - wie Qualifikation, Alter und Sprachkenntnisse - werden Punkte vergeben. Wer mindestens sechs Punkte hat, erwirbt eine "Chancenkarte", die für ein Jahr zur Jobsuche in Deutschland berechtigt, sofern der Lebensunterhalt gesichert ist. Die Karte soll um bis zu zwei Jahre verlängert werden können, wenn es einen Arbeitsvertrag für eine qualifizierte Beschäftigung gibt und die Bundesagentur für Arbeit zugestimmt hat. Auch die Mindestvoraussetzungen für deutsche Sprachkenntnisse wurden vom Level A2 auf A1 abgesenkt. Erhältlich sein soll die Chancenkarte etwa in der ersten Jahreshälfte 2024.
Was soll für den Familiennachzug gelten?
Für Fachkräfte aus dem Ausland werden die Möglichkeiten des Familiennachzugs ausgeweitet. So soll nicht nur die "Kernfamilie", also Ehepartner und Kinder, sondern etwa auch die Eltern und Schwiegereltern einer zugewanderten Fachkraft nach Deutschland kommen können.
Welche Möglichkeiten gibt es für Asylbewerber?
Asylbewerber, deren Verfahren bereits läuft, sollen künftig die Möglichkeit haben, eine Berufsausbildung zu beginnen oder einen Job anzunehmen. Die Ampel-Parteien sprechen vom "Spurwechsel": Menschen, die keinen Anspruch auf einen Asylstatus in Deutschland haben, können bleiben, wenn sie eine Arbeit finden. Anerkannte Flüchtlinge haben bereits jetzt die Möglichkeit, arbeiten zu gehen.
Dieser "Spurwechsel" soll allerdings nur rückwirkend möglich sein und nicht für neue Asylbewerber, um keine "Fehlanreize" für irreguläre Migration zu schaffen. Stichtag ist der 29. März 2023: Der "Spurwechsel" steht den Menschen offen, deren Asylverfahren damals bereits lief. Damit reagierte die Ampel auf Kritik von Union und AfD, die den Regierungsfraktionen in der ersten Lesung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes im Bundestag vorgeworfen hatten, damit die Hürden für Einwanderung zu senken und den Zuzug "minderqualif
Was soll sich bei Aufenthaltsgenehmigungen ändern?
Das Aufenthaltsgesetz sieht bislang vor, dass eine Einreise nach Deutschland immer mit einem zweckgebundenen Visum erfolgen muss. Das führt dazu, dass beispielsweise jemand, der mit einem Touristenvisum eingereist ist und kurzfristig einen Arbeitsplatz in Deutschland angeboten bekommt, erst wieder ausreisen und ein neues, zweckangepasstes Visum beantragen muss. Künftig soll dies nicht mehr nötig sein, sondern das Visum noch während des Aufenthalts in Deutschland entsprechend geändert werden können.
Was wird aus der Westbalkan-Regelung?
In einer ergänzenden Verordnung wird die bis Ende 2023 befristete Westbalkan-Regelung entfristet. Auf deren Grundlage können Arbeitgeber in Deutschland bisher jährlich 25.000 Arbeitskräfte aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, der Republik Nordmazedonien, Montenegro und Serbien anwerben. Das Kontingent wird auf 50.000 erhöht. Die Regelung gilt als Erfolgsmodell, das viele qualifizierte Arbeitskräfte nach Deutschland gebracht hat.
Erstmals ist ein Zuwanderungskontingent für unqualifizierte Arbeitskräfte auch aus anderen Ländern als dem Westbalkan vorgesehen, die einen Arbeitsplatz in Deutschland nachweisen. Im Gespräch ist eine Zahl von 30.000 - festgelegt werden muss dies von der BA je nach Bedarf. Sie dürfen innerhalb eines Jahres für acht Monate jede sozialabgabenpflichtige Tätigkeit ausüben, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist und vollständig die Reisekosten trägt. Zudem soll ein Zugang zum Arbeitsmarkt für ausländische Pflegehilfskräfte unterhalb des Fachkräfteniveaus geschaffen werden. Etwa 1200 zusätzliche Pflegende erhofft man sich so.
Was sagt die Wirtschaft zu den Plänen?
Laut einer Analyse der Bundesagentur für Arbeit fehlen in jedem sechsten Beruf Fachkräfte. Demnach gab es im vergangenen Jahr in 200 der rund 1200 bewerteten Berufe einen Engpass. Betroffen sind der Analyse zufolge unter anderem die Pflegeberufe, Berufskraftfahrer, medizinische Fachangestellte, Bauberufe, Kinderbetreuung, Kraftfahrzeugtechnik und IT-Berufe. Im Vergleich zum Vorjahr sind 2022 Hotel- oder Gastronomieservice, Metallbau und Busfahrer neu dazugekommen.
Entsprechend sehen Unternehmen in Deutschland den Mangel an Fachkräften aktuell als eines der größten Risiken für ihr Geschäft an. Das geht aus einer Konjunkturumfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) von Ende Mai hervor. "Angesichts der Alterung der Gesellschaft wird der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften eine der wesentlichen strukturellen Herausforderungen für die Unternehmen in Zukunft bleiben", sagte DIHK-Konjunkturexperte Ilja Nothnagel.
Grundsätzlich bewerten Arbeitgeberverbände die Reform positiv. So begrüßte der Präsident des Verbands der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen in den tagesthemen, "dass bei der Qualifikation die Hürden gesenkt wurden".
Doch es gibt auch Kritik. So hält der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Jörg Dittrich, das Zuwanderungsrecht weiterhin für zu bürokratisch. Der Weg eines Einwanderers sei noch immer "mit zu vielen Beschwernissen und Schlaglöchern" gepflastert, als dass er von Zuwanderern in der erhofften Größenordnung auch genommen würde.
Auch der Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes, Felix Pakleppa, äußerte sich kritisch. "Für die Zuwanderung von außereuropäischen Fachkräften wird allein auf das Vorhandensein formaler Qualifikationen abgestellt", sagte er. Zuwanderungswilligen mit Berufserfahrung werde so nach wie vor der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt.
Steht die Opposition hinter den Plänen der Ampel?
Nein. Die Spitze der Unionsfraktion hält den Entwurf für ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz derzeit nicht für zustimmungsfähig. "So, wie es heute auf dem Tisch liegt, kann das natürlich nur zur Ablehnung führen", sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei (CDU), am Dienstag. Die von SPD, Grünen und FDP geplanten Regelungen seien inhaltlich völlig falsch und würden zusätzliche Migration nach Deutschland auslösen. Die Ampel-Koalition tue alles dafür, dass Migration nach Deutschland ungeordnet und ungesteuert möglich werde, kritisierte Frei. Daher sei bei der Abstimmung im Bundestag auch eine Enthaltung nicht geboten.
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Die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Andrea Lindholz, kritisierte die erweiterten Möglichkeiten für einen "Spurwechsel". Damit werde "legale und illegale Zuwanderung" vermischt. "Die zentralen Änderungen betreffen nicht Fachkräfte, sondern Geringqualifizierte und Asylbewerber ohne Schutzbedarf", so die CSU-Politikerin. Die Union stört sich außerdem daran, dass es auch jemandem, der mit einem Touristenvisum nach Deutschland eingereist ist, möglich sein soll, nachträglich in die Erwerbsmigration zu wechseln - ein sogenannter Zweckwechsel.
Die AfD kritisierte das geplante Punktesystem. Es sei "sinnlos", sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann. Ein Punktesystem nütze überhaupt nichts, wenn es offene Grenzen gebe. "Es muss gar keiner übers Punktesystem reinkommen, die können einfach über die Grenzen reinkommen." Das Vorhaben sei Augenwischerei.
Die Linkspartei hatte in der ersten Lesung des Gesetzentwurfs darauf hingewiesen, dass der Arbeitskräftemangel besonders im Niedriglohnsektor groß sei. Reformbedarf bestehe also bereits im Inland.
Wie geht es weiter?
Über den Gesetzentwurf soll an diesem Freitag abschließend im Bundestag beraten werden. Auf Wunsch der SPD gibt es eine namentliche Abstimmung. Dies "bietet die Chance, dass sich alle Fraktionen zu einem modernen Einwanderungsrecht bekennen", sagte SPD-Innenpolitiker Sebastian Hartmann. Die Unionsfraktion und die Linkspartei haben angekündigt, zum Gesetzentwurf jeweils einen Entschließungsantrag vorlegen zu wollen.
Die Regierung erhofft sich von den neuen Einwanderungsregeln laut ihrem Gesetzentwurf jährlich etwa 75.000 zusätzliche Arbeitskräfte