Islamismus im sanften Gewand: Warum ist Muslim Interaktiv in Deutschland so erfolgreich?

Geschichte von Beatrice Achterberg, Berlin/ NZZ

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Hamburg im Mai: Die Polizei bewacht eine Kundgebung des islamistischen Netzwerks Muslim Interaktiv im Hamburger Stadtteil St. Georg. Stephan Wallocha /

Imago © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschla

Wer wissen will, warum Muslim Interaktiv Millionen Jugendliche erreicht, der muss nur Youtube öffnen. Es geht vollkommen harmlos los: Zwei freundlich dreinblickende Männer ziehen in einem Video durch die Strassen von Hamburg. Sie interviewen männliche Passanten zum Thema Ramadan.

 Ein junger Muslim erzählt dem Frager mit dem breiten Kreuz, das gemeinsame Fasten wäre ein «cooles Gemeinschaftsgefühl» gewesen. Die Stimmung ist locker, entspannt. Die Interviewer gehen weiter. Sie fragen einen Mann mittleren Alters, der sich selbst als Atheist bezeichnet, was er vom Ramadan hält. Seine Antwort: «Wenn man gläubig ist, warum nicht.» Einer der Interviewer nickt. Es ist alles ganz unverbindlich.

Wie er und sein Kollege heissen, erfährt man nicht. Nur der Kanal steht unten in der Beschreibung: Muslim Interaktiv. Wenn man die Namen der beiden erfahren will, muss man schon bei Google danach suchen. Sie lauten: Joe Adade Boateng und Dawun.

Videos der beiden gibt es auch auf anderen Apps, zum Beispiel auf Tiktok. Auch sie wirken harmlos. In einem verbreitet Boateng Durchhalteparolen für die letzten zehn Tage des Ramadan. Er sitzt in einem traditionellen Gewand vor der Kamera und sagt: «Die letzten zehn Nächte des Monats Ramadan zählen zu den besten Nächten überhaupt.» Zum Beispiel die «Laylat al-Qadr», die Nacht, in der den Muslimen der heilige Koran gesandt worden sei. Wer in dieser Nacht reinen Glaubens zu Allah bete, dem würden seine Sünden vergeben. Die Gläubigen sollen sich in den letzten Tagen vor dem Fastenbrechen noch einmal anstrengen, das ist die Botschaft. «Gebt noch einmal richtig Gas!», heisst es im Text unter dem Video.

drei prominente Boxer vor, die zum Islam konvertiert sind: «Die Nummer eins wird euch sicherlich überraschen», sagt er. Es ist Gervonta Davis, «der womöglich beste Boxer seiner Gewichtsklasse». Boateng fordert seine Zuschauer auf, ihn mit einem «As-salam alaikum» zu begrüssen.

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Offizieller Account verboten, doch Nutzer helfen

Der offizielle Kanal von Muslim Interaktiv ist seit einiger Zeit bei Tiktok gesperrt. Aber Boatengs Videos kann man überall finden. Seine Anhänger verbreiten sie weiter. Millionen Menschen haben sie sich angesehen. Boateng wirkt überhaupt nicht wie ein Prediger. Er sieht eher aus wie einer aus der oberen Mittelschicht. Er könnte auch in einem Berliner Hipster-Café arbeiten. Nur die eingestreuten Formeln – «al-Hamdulillah», «Inschallah» – und Sätze wie «Ja, Bruder» signalisieren seinen muslimischen Zuschauern: Ich bin einer von euch.

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Auf den Demonstrationen der Gruppe Muslim Interaktiv gilt die Geschlechtertrennung – auch wenn die Behörden diese untersagt hatten. Markus Matzel / Imago © Bereitgestellt von Neue Zürcher Zeitung Deutschland

Der Influencer kann aber auch anders. Er ist mehr als nur der freundliche Muslim von nebenan, der den Menschen erklärt, was sie an Ramadan zu tun und zu lassen haben. Das erkennt man, wenn man sich mehr Videos von ihm ansieht. Eines heisst: «Verräterische Iftar». Es geht um das Mahl, das Muslime am Ende der Fastenzeit einnehmen. Das Video ist im Hochformat aufgenommen, perfekt für den Smartphone-Bildschirm.

Boatengs Hände sind gefaltet, der Blick ist hart. Im unteren Bildrand ist ein Foto eingeblendet. Es zeigt Israels Staatspräsidenten Yitzhak Herzog beim gemeinsamen Essen mit dem israelischen Botschafter der Vereinigten Emirate, Mohamed Al Khaja. Im September 2020 hatten die Vereinigten Arabischen Emirate Friedensverträge mit Israel geschlossen.

Ein aufgebrachter Boateng fragt: «Nach 32 000 toten Muslimen in Gaza haben diese Verräter nichts Besseres zu tun, als ihre Beziehungen zu diesen Besatzern, den Verursachern, aufrechtzuerhalten?» Die Israeli seien die «Ursache und der Grund dafür», dass «unsere Geschwister im Gaza nichts zum Iftar haben», dem Festmahl zum Ende des Ramadans. Die Morde der Hamas an mehr als 1200 unschuldigen Israeli am 7. Oktober erwähnt Boateng mit keinem Wort.

Joe Boateng ist der «Islamisten-Pop-Star»

Die jungen Menschen, die zu den Demonstrationen von Muslim Interaktiv kommen, stören sich nicht daran. Im Gegenteil. Bei der letzten Versammlung in Hamburg im Mai mit dem Motto «gegen die Zensur unserer islamischen Werte» kamen mindestens 2500 Teilnehmer. Anschliessend fordert die Opposition von der deutschen Regierungskoalition, die Gruppe Muslim Interaktiv zu verbieten. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul warnte vor ihren «menschenverachtenden Inhalten».

Ein weiteres Video: Die Hamburger Behörden haben gerade eine Demonstration der Gruppe untersagt. Boateng trägt einen Kapuzenpulli, die Kamera wackelt, er wirkt gehetzt. Er spricht von einem «Meinungs-» und «Wertediktat». Er stellt sich als Verteidiger des Grundgesetzes dar, das für alle zu gelten habe. Der junge Mann will zeigen: Er ist verfassungstreu. Die deutschen Behörden seien es nicht. Darum geht es in vielen seiner Videos.

Dann ein anderer Clip, düstere Musik spielt im Hintergrund, das Zimmer ist abgedunkelt. Boateng sitzt in einem hellen Sessel. Kanzler Scholz, sagt Boateng mit kräftiger Stimme, führe «eine gesamte Nation in den Abgrund». Scholz Äusserungen zur Hamas würden von den Medien verwendet, um alle Muslime zum Feindbild zu machen. So etwas habe es schon einmal in Deutschland gegeben, sagt Boateng. Da habe man auch versucht, ein Feindbild in den Köpfen der Deutschen zu etablieren. «Das Ende kennt ihr bereits alle», sagt Boateng und faltet die Hände. Dann endet das Video. Es trägt den Titel: «Adolf (Olaf) Scholz».