1. Bertelsmann-Studie: Ein Drittel der Bürger hält religiöse Vielfalt für „Bedrohung“

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Ein Drittel der Bürger hält religiöse Vielfalt für „Bedrohung“

Politikredakteur
etty; Montage: Infografik WELT
Die religiöse Pluralität wächst – doch viele Menschen empfinden dies laut einer Studie als Gefahr. Als Grund sehen die Forscher neben der zunehmenden Konfessionslosigkeit das Fehlen von Kenntnissen und Kontakten. Ihr Lösungsansatz hat einen Haken.
 Noch nie seit dem Mittelalter war die religiöse Vielfalt in Deutschland so groß wie heute. Nur die Hälfte der hier lebenden Menschen sind Christen, fast 36 Prozent gehören keiner Religionsgemeinschaft an. Es folgen Muslime mit knapp neun Prozent sowie kleinere Gruppen. Diese wachsende Pluralität hält gut ein Drittel (34 Prozent) für eine Bedrohung.

Dies ist das zentrale Ergebnis des Religionsmonitors 2023, dessen Daten zur Pluralisierung der Bekenntnisse WELT exklusiv vorliegen.


Laut der Infas-Erhebung mit gut 4300 repräsentativ ausgewählten Befragten im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung wurden jene Bedrohungsgefühle bei den Interviews im Sommer 2022 von 38 Prozent der Menschen ohne Religionszugehörigkeit geäußert und von 34 Prozent der Mitglieder christlicher Konfessionen.

Am wenigsten verbreitet ist die Angst vor der Pluralisierung unter hier lebenden Muslimen (20 Prozent), am stärksten bei Hindus (61), die vorwiegend Migranten sind und hierbei möglicherweise an die oft gewaltsamen religiösen Konflikte auf dem indischen Subkontinent denken. Insgesamt nur 29 Prozent alle Befragten empfinden die Pluralität als „Bereicher sr

Dass die Sympathien zwischen den Bekenntnissen nicht sonderlich ausgeprägt sind, lässt sich auch an Veränderungen gegenüber vorherigen Befragungen ablesen. Hatten beim Religionsmonitor 2013 noch 89 Prozent aller Befragten gesagt, man solle „gegenüber allen Religionen offen sein“, so ist dieser Wert um neun Punkte auf nun 80 Prozent gesunken.

Hohe Wertschätzung der Religionsfreiheit

Um gleich 13 Punkte auf 59 Prozent ging die Zustimmung zu der Aussage zurück, dass „jede Religion einen wahren Kern“ habe. Zugleich bleibt die Wertschätzung der Religionsfreiheit sowie des Rechts auf den Wechsel oder das Ablegen des Bekenntnisses mit 93 Prozent sehr hoch.

„Die hohe Zustimmung zu abstrakten Prinzipien der Glaubens-, Bekenntnis- und Religionsausübungsfreiheit ist daher die eine Seite“, resümieren die Autoren um die Religionssoziologin Yasemin El-Menouar. „Der gesellschaftliche Konsens löst sich auf, wenn es um die Haltung gegenüber unterschiedlichen religiösen Wahrheiten als auch um die Einschätzung der Relevanz von Religion für die Moderne geht.“

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Dass 59 Prozent der Befragten meinen, Religion als solche passe „nicht mehr in unsere Zeit“, veranschauliche „eine zunehmende Kluft zwischen dem Drittel der Bevölkerung, das keinen Bezug zur Religion hat, und einem kleineren Kreis von Menschen, deren Leben stark religiös geprägt ist“.

Solche starken Prägungen finden sich in Deutschland in allen Bekenntnissen. Doch unterscheiden sich dabei die jeweiligen Anteile. Zwar bezeichnen sich Anhänger aller Religionen – und sowieso Menschen ohne Religionszugehörigkeit – mehrheitlich als „gar nicht“, „wenig“ oder „mittel“ religiös. Während dies aber fast 80 Prozent der Christen über sich sagen, äußern sich so nur 63 Prozent der Muslime. Und von denen glauben 85 Prozent „stark“ an Gott, von den Christen lediglich 47 Prozent.

Von deren Mainstream weichen Freikirchler und Pfingstler ab, die gut zwei Prozent aller Christen in Deutschland ausmachen. 49 Prozent von ihnen bekunden einen „starken“ Gottesglauben und schätzen sich als „sehr“ religiös ein. Unter den Muslimen wiederum fällt auf, dass bei Sunniten (zwei Drittel der hiesigen Islam-Anhänger) jene starke religiöse Identität sehr viel mehr verbreitet ist als bei Anhängern anderer muslimischer Glaubensrichtungen.

 
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Sucht man angesichts der wachsenden Fremdheitsgefühle zwischen Anhängern der verschiedenen Religionen sowie der Großgruppe der Religionslosen nach Möglichkeiten zur Annäherung, so kann man einen Ansatzpunkt im religiösen Wissen der Menschen finden. Dieses sieht laut den Selbstauskünften aller Befragten so aus: „Viel“ zu wissen behaupten 60 Prozent übers Christentum, 16 Prozent übers Judentum, 27 Prozent über den Islam.

Von all diesen, die „viel“ wissen, hält die Mehrheit die religiöse Vielfalt für eine „Bereicherung“. So ist es auch bei denen, die über die drei Religionen „wenig“ wissen. Nur bei denen, die „kein Wissen“ haben, wird die Pluralität mehrheitlich als „Bedrohung“ eingeschätzt.

Dieser Angst vor einer Bedrohung begegnet man überwiegend auch bei denjenigen, die „keine Kontakte“ zu Anhängern einer anderen Religion haben. Hieraus folgern die Autoren, „dass für ein gelingendes Zusammenleben sowohl eine sachorientierte Aufklärung und differenzierte Wissensvermittlung als auch persönliche Kontakte wichtig sind. Nur in einer Kombination von kognitiver und affektiver Auseinandersetzung können Vorbehalte nachhaltig reduziert werden“.

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Allerdings steht dem Wissenserwerb entgegen, dass die religiöse Erziehung, die bisher weithin in den Herkunftsfamilien stattfindet, deutlich zurückgeht. Von den 16- bis 24-Jährigen sagen nur noch 25 Prozent, dass sie religiös erzogen worden seien, in Ostdeutschland sind es in dieser Altersgruppe lediglich 16 Prozent. Nötig ist angesichts dessen nach Ansicht der Autoren eine Stärkung der religiösen Wissensvermittlung in der Schule.

Aber dort sei „dieses Thema auf den Religionsunterricht beschränkt, an dem nicht alle teilnehmen“. Daher brauche es „überkonfessionelle Angebote, die alle erreichen und unter Einbeziehung aller Religionsgemeinschaften ausgestaltet werden sollten“.

Doch diese Einbeziehung aller Religionen ist schwierig, da sich etwa beim Islam gar nicht sagen lässt, welche Organisation die Religion repräsentiert und einbezogen werden könnte. Von den konfessionsgebundenen Muslimen gab im Religionsmonitor nur jeder Vierte an, Mitglied einer Gemeinde oder eines muslimischen Vereins zu sein, und noch geringer ist die Bindung an Dachverbände wie beispielsweise Ditib. Daher können diese, so die Autoren, „nicht als konfessionelle Vertretungen angesehen werden“.