Anschlag in Hanau: Was lief schief in der Tatnacht?

 

Was wussten die Behörden über den Täter? Warum wurde er nicht gestoppt? Ein Ausschuss soll offene Fragen zum Anschlag in Hanau klären. Es geht vor allem um die Polizei.

Ein Gemälde unter der Frankfurter Friedensbrücke zeigt die Porträts von neun Opfern der Anschläge in Hanau. © Andreas Arnold/​dpa Ein Gemälde unter der Frankfurter Friedensbrücke zeigt die Porträts von neun Opfern der Anschläge in Hanau.

"Erinnerung! Gerechtigkeit! Aufklärung! Konsequenzen!" Die Initiative 19. Februar Hanau bringt immer wieder ihre zentralen Forderungen auf den Punkt, oder genauer: vor die Ausrufezeichen. Die vier Worte stehen auf Transparenten, Plakaten und über Presseerklärungen. Überlebende und Angehörige der 2020 bei dem rassistischen Anschlag in der hessischen Stadt Ermordeten haben sich zu der Initiative zusammengeschlossen, um sich Gehör zu verschaffen. In der Nacht vom 19. Februar 2020 hatte ein 43-Jähriger in der Hanauer Innenstadt und im Stadtteil Kesselstadt neun junge Menschen sowie seine Mutter ermordet.

"Wir machen seit 16 Monaten alles Mögliche, um Antworten zu bekommen", sagt Sprecherin Newroz Duman. Die Initiative hat unter anderem eigene Recherchen angestellt, um das Geschehen vor, während und nach der Tatnacht zu rekonstruieren. Ein Ergebnis ist ein Dokument mit 18 eng beschriebenen Seiten, veröffentlicht zum Jahrestag im Februar. Aus Sicht der Initiative beschreibt es eine "Kette behördlichen Versagens" – und es wirft etliche Fragen auf.

Viele dieser Fragen greift nun ein neuer Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag auf. Für Duman auch ein Erfolg des unermüdlichen Einsatzes der Betroffenen. Am Mittwochnachmittag soll das Gremium auf Initiative der Fraktionen von SPD, FDP und Linke eingesetzt werden. Auch die schwarz-grüne Regierungskoalition hat zuletzt ihre Zustimmung signalisiert. Die Umstände der Tat machten eine "Untersuchung der Vorgänge innerhalb der Hessischen Landesregierung und ihrer nachgeordneten Behörden notwendig", heißt es in dem Antrag. Ziel sei es, "eventuelle Versäumnisse" zu untersuchen.

Nach der Tat hat der Generalbundesanwalt die Ermittlungen an sich gezogen. Noch sind sie nicht abgeschlossen. Da der Täter sich selbst erschoss, wird gegen ihn nicht mehr ermittelt. Bei der Karlsruher Behörde steht jedoch die Suche nach potenziellen Mitwissern oder Helfern im Mittelpunkt, nicht mögliche Fehler der Behörden.

Die Fragen, die der Untersuchungsausschuss beantworten soll, lassen sich grob in drei Themenkomplexe gliedern: Sie betreffen den Täter, den Polizeieinsatz in der Tatnacht und den Umgang mit Opfern, Überlebenden und Angehörigen. So soll er aufklären, welche Informationen den hessischen Behörden über den späteren Mörder vorlagen und warum er legal Waffen besitzen konnte. Er hatte auf seiner Website auch wahnhafte, rassistische Pamphlete und Videos veröffentlicht. Mit ähnlich lautenden, wirren Anzeigen hatte sich der Mann bereits an Behörden gewandt, ohne dass man dort die Gefahr erkannte.

Was lief schief in der Tatnacht?

Die meisten Fragen werfen allerdings Vorgänge in der Tatnacht auf. Ein Beispiel: Die Notrufnummer 110 war schnell überlastet, viele Hilfesuchende kamen nicht durch. Unter ihnen auch der 22-jährige Vili Viorel Păun, der den Täter mit seinem Auto verfolgte – und kurz darauf von ihm erschossen wurde. Das Land Hessen hat ihn im April posthum mit der Medaille für Zivilcourage geehrt. Die Abgeordneten wollen jetzt etwa wissen, ob der Täter früher hätte gestoppt werden können, wenn Păuns Hinweise die Polizei erreicht hätten, und ob seither etwas unternommen wurde, um die Probleme mit der Notruftechnik tatsächlich abzustellen.

Seit Anfang Juni bekannt wurde, dass gegen 18 Beamte des Frankfurter Spezialeinsatzkommandos wegen mutmaßlich rechtsextremer Chatnachrichten ermittelt wird, stellen sich weitere Fragen. Nach Angaben des hessischen Innenministeriums waren 13 der betroffenen Polizisten am 19. Februar 2020 in Hanau im Einsatz. Ob und welchen Einfluss das auf das Geschehen hatte, ist einer der Aspekte, denen sich der Ausschuss widmen soll. 

Dabei geht es etwa auch um die Erstürmung des Hauses des Täters durch Frankfurter Spezialkräfte. Der Mann lebte dort mit seinem Vater und seiner Mutter. Die Polizei hatte das Reihenhaus im Hanauer Stadtteil Kesselstadt erst gegen drei Uhr morgens gestürmt, Stunden nach den Morden, obwohl die Adresse schnell bekannt war. "Warum hat das so lange gedauert? Wer hat dort die Entscheidungen getroffen, einer der jetzt Verdächtigen?", fragt Duman. Aus ihrer Sicht müsse aber der gesamte Polizeieinsatz überprüft werden.

"Es macht einen Unterschied, wie die Polizei reagiert, wenn der Notruf aus einer Shisha-Bar kommt", ist Duman überzeugt. Ihre Initiative hat Aussagen von Verletzten oder Angehörigen dokumentiert, die von diskriminierendem Verhalten berichten. Es geht dabei um den Umgang mit Verletzten und Getöteten kurz nach der Tat und um das Informieren ihrer Angehörigen. "Das hat mit strukturellem Rassismus zu tun", sagt Duman. "Blonden Deutschen" wären die Beamten anders gegenübergetreten, ist sie überzeugt.

Auch die Abgeordneten des Landtags wollen jetzt rekonstruieren, "wann genau innerhalb der Polizeistrukturen in der Tatnacht bekannt geworden ist, dass es sich mutmaßlich um einen rassistisch motivierten Anschlag handelt", und welche Standards für den Umgang mit Opfern von Terroranschlägen in der Polizei gelten. Waren die Behörden zunächst von einem ganz anderen Hintergrund ausgegangen, wie einige sehr frühe Medienberichte aus der Stadt, in denen über Organisierte Kriminalität spekuliert wurde? Und prägte das den Einsatz und wie man den Betroffenen gegenübertrat? 

Günter Rudolph, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, von der die Initiative zum Ausschuss ausging, sagt: "Wir kamen da mit den normalen parlamentarischen Mitteln nicht weiter", Innenminister Peter Beuth (CDU) habe gemauert. Deshalb sei ein Untersuchungsausschuss jetzt zwingend. Den Antrag habe man mit Hinterbliebenen eng abgestimmt. 

"Wir haben ein gemeinsames Interesse daran, dass die Fragen der Opferfamilien beantwortet werden", sagt auch der Grünen-Fraktionsvorsitzende Mathias Wagner. Deshalb werde seine Fraktion dem Antrag zustimmen, auch wenn er von der Opposition kommt. Ob hessischen Behörden tatsächlich Fehler vorzuwerfen seien, da wolle er sich nicht vorab festlegen. Es gelte "allen Fragen nachzugehen" und mögliche Fehler, aber auch "falsche Theorien" aufzudecken.

Politisch geraten die in Hessen mitregierenden Grünen beim Thema Rechtsextremismus immer wieder unter Druck. Die Fraktion hatte sich bei der Einsetzung eines NSU-Untersuchungsausschusses 2015 enthalten und das später selbst als Fehler bezeichnet. Und in den Skandalen rund um rechte Umtriebe hessischer Polizisten stellt sich die Landtagsfraktion bislang hinter Innenminister Beuth. Der grüne Ortsverband Hanau hat hingegen vor wenigen Tagen per offenem Brief die Entlassung des Ministers gefordert. "Die Grünen sind eine vielfältige Partei, in der es vielfältige Positionen gibt", heißt es dazu von Fraktionschef Wagner.

Ob es dem Hanau-Untersuchungsausschuss gelingt, auch über Fraktionsgrenzen effektiv zusammenzuarbeiten, oder ob dort der politische Schlagabtausch im Vordergrund steht, muss sich zeigen.

"Der Untersuchungsausschuss ist aus unserer Sicht vor allem ein weiteres Instrument, um für Aufklärung zu sorgen", sagt Newroz Duman. "Vielleicht bekommen wir nur neue Puzzleteile hinzu – aber die brauchen wir." Nur so könnten die richtigen Konsequenzen gezogen werden. Und das ist schließlich eine der Forderungen mit dem Ausrufezeichen.

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