Diskriminierungsbericht: Ist Deutschland in einer „Diskriminierungskrise“?
Anlässlich der Vorstellung ihres neuen Diskriminierungsberichts hat Ferda Ataman Deutschland eine „Diskriminierungskrise“ attestiert. Die Beauftragte für Antidiskriminierung konstatierte am Dienstag, dass immer mehr Menschen von Benachteiligungen berichteten, gesellschaftliche Fortschritte in Frage gestellt würden und die Rechtslage lückenhaft sei. Sie sei „in Sorge um unser Land“, so Ataman.
Laut dem Bericht gingen von 2021 bis 2023 rund 20.600 Anfragen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ein. Dass die Zahlen kontinuierlich stiegen, sei auch angesichts des Rechtsrucks nicht überraschend, so Ataman. Die Ergebnisse der AfD in Sachsen und Thüringen bildeten nun „einen neuen Tiefpunkt“. Politische Dynamiken hätten unmittelbaren Einfluss auf alltägliche Diskriminierungen, sagte sie. Das gelte auch für die aktuelle Tendenz, Migration für alle Probleme verantwortlich zu machen.
Der Diskriminierungsbericht erscheint seit 2006 alle vier Jahre. An der nun vorgestellten Studie waren verschiedene Stellen beteiligt, neben Ataman etwa die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge, Integration und Antirassismus, der Beauftragte für Menschen mit Behinderungen, der Beauftragte für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, der Beauftragte gegen Antiziganismus sowie der Queer-Beauftragte. Grundlagen sind Anfragen, die bei Antidiskriminierungsstellen eingehen, Forschungsergebnisse und Rechtsprechung.
Nur 25 Prozent der Arztpraxen haben einen barrierefreien Zugang
Die Beauftragten machten am Dienstag deutlich, wovon sie sprechen. Jürgen Dusel, zuständig für Menschen mit Behinderungen, rief in Erinnerung, dass in Deutschland 13,7 Millionen Menschen eine Behinderung, aber nur 25 Prozent der Arztpraxen einen barrierefreien Zugang haben. In München habe es bis vor Kurzem nicht eine gynäkologische Praxis gegeben, in der Frauen, die im Rollstuhl sitzen, behandelt werden könnten.
Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte, sprach über die existenziellen Sorgen der Juden in Deutschland. Angesichts der Zunahme von Antisemitismus versteckten viele in der Öffentlichkeit alles, was auf ihren Glauben schließen lasse. In Liefer- und Taxiapps änderten sie ihre Namen.
Der Bericht widmet sich nicht nur Zahlen, sondern auch dem öffentlichen Diskurs. Hier ziehen die Verfasser ein gemischtes Fazit. Einerseits sei das Bewusstsein für Diskriminierungen gewachsen. Es gebe aber auch „Gegenbewegungen“. Sie stellten infrage oder bekämpften, was „hinsichtlich Gleichbehandlung und Akzeptanz von Vielfalt erreicht wurde“.
Das Erstarken rechtspopulistischer, rechtsextremer und antifeministischer Kräfte bewirke, „dass extrem rechte und menschenfeindliche Positionen zunehmend Eingang in öffentliche Debatten finden“, heißt es. Als „wichtiges und notwendiges Zeichen“ bewerten die Autoren die Demonstrationen für Demokratie und Menschenrechte Anfang des Jahres.
„Immenser Anstieg“ antisemitischer Vorfälle
Der Bericht untersucht auch die Folgen internationaler Krisen, beispielsweise den antiasiatischen Rassismus und die Wiederbelebung antisemitischer Verschwörungserzählungen in der Corona-Pandemie. Aus der Ukraine geflüchtete Roma seien mit Misstrauen konfrontiert und gegenüber anderen Geflüchteten diskriminiert worden, stellen die Autoren fest. Gleiches gelte für Menschen aus Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion.
Auch dieser Bericht macht deutlich, wie drastisch die Folgen des Terrorangriffs der Hamas auf Israel und des Krieges in Gaza sind. Er illustriert den „immensen Anstieg“ antisemitischer Vorfälle und die Zunahme von antimuslimischem Rassismus. Die Zahl der Anfragen habe die zivilgesellschaftlichen Beratungsstellen „an den Rand der Belastungsgrenze (und darüber hinaus) gebracht“, heißt es. In den betroffenen Communitys herrsche große Unsicherheit. Die Autoren rufen dazu auf, unterschiedliche Diskriminierungen nicht isoliert voneinander zu betrachten.
Der Bundesregierung werfen die Autoren vor, „das zentrale antidiskriminierungspolitische Versprechen“ des Koalitionsvertrages vernachlässigt zu haben, die Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Das ist zugleich die deutlichste Forderung der Autoren an die Bundesregierung. Denn Menschen erlebten auch dort Diskriminierung, wo das AGG bisher nicht greife: in Behörden, öffentlichen Bildungseinrichtungen oder im Kontakt mit der Polizei – also da, wo der Staat handele. Hier hätten die Anfragen „deutlich zugenommen“, konstatieren die Autoren. Sie fordern Nachbesserungen auch bei den Merkmalen, die das AGG schützt. Die Staatsangehörigkeit müsse aufgenommen werden; Türken würden deshalb auf dem Wohnungsmarkt und Israelis von Fluggesellschaften diskriminiert – Kuwait Airways boykottiert ihre Mitnahme. Bislang greift das AGG in solchen Fällen nur, wenn rassistische oder antisemitische Motive nachgewiesen werden können. Das falle oft schwer, weil die Verantwortlichen ihre Entscheidungen nur selten begründeten. Aus Sicht der Autoren legt das Gesetz Betroffenen überhaupt zu hohe Pflichten auf. Ataman appellierte an die Bundesregierung, die „dringend notwendige Reform“ nun anzugehen, „allen voran das Bundesjustizministerium“ habe diese verschleppt.