İlker Çatak nutzt seine Oscar-Nominierung, um auf Rassismus hinzuweisen
Der in Berlin lebende Regisseur İlker Çatak ist mit seinem Film „Das Lehrerzimmer“ für Deutschland bei den Oscars in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert. Kurz vor der Verleihung am 10. März in Los Angeles gibt er Interviews in Berlin. Dabei geht es ihm weniger um seinen Film. Er nutzt die Aufmerksamkeit, um auf den strukturellen Rassismus deutscher Leitmedien, wie er sagt, aufmerksam zu machen.
Herr Çatak, kurz nachdem bekannt wurde, dass Ihr Film für den Oscar nominiert wurde, sagten Sie, er sei ein Beispiel für erfolgreiche Integration. Stimmt dieser Satz noch?
Ich glaube, ich habe mich da ein bisschen zu früh gefreut. Denn das ist nicht, was die breite Medienlandschaft schreiben will.
Was haben Sie denn mit dem Satz gemeint?
Was haben Sie denn mit dem Satz gemeint?
Ich habe mir gedacht, in Anbetracht der politischen Situation wäre es wichtig, auch mal ein Gegenbeispiel zur negativen Debatte um die Migration zu liefern.
Was meinen Sie mit „politischer Situation“?
Die AfD und die Nazis im Parlament. Ich habe das erst mal hingenommen, dass in der Berichterstattung immer nur von den Nominierten mit typisch deutschem Namen die Rede war und mein Name oft außen vor gelassen wurde. Genannt wurde der Titel des Films, aber nicht der Name des deutschen Regisseurs İlker Çatak. Eine Headline fand ich wirklich bezeichnend: ‚Sandra Hüller und Wim Wenders bei einem Oscar-Lunch neben anderen Nominierten‘. – Du weißt also, du bist der deutsche Beitrag, du hast seit September im Auftrag der deutschen Regierung und für German Films repräsentative Arbeit gemacht, um diesen Film zu den Oscars zu bringen. Denn das ist ja nichts, was einem zufliegt. Das ist monatelange Arbeit, man reist herum, schüttelt viele, viele Hände, versucht, Menschen zu überzeugen, macht Pressearbeit. Das ist unbezahlte Arbeit, für die man sein Familienleben hintanstellt. Und das ist dann der Dank, den man bekommt – eine Nennung als anderer.
Fühlen Sie sich angegriffen?
Mir geht es hier wirklich nicht um mich, sondern darum, wie die Medienlandschaft – und ich rede hier von Leitmedien wie dem Stern, dem Spiegel, der Süddeutschen Zeitung – mit Menschen mit Migrationsgeschichte umgehen. Mich ärgert die Ignoranz. Mich ärgert die Nachlässigkeit in Meinungsmacherkreisen, die sich darin ausdrückt, wie unsere Namen geschrieben werden. Wenn sie denn überhaupt geschrieben werden. Mich ärgert der nationalistische Ton dieser Headlines. Ich denke, dass wir hier ein strukturelles Problem haben. Ich empfinde das als Nährboden für rechte Tendenzen.
Ich habe Sie immer als freundlich und zurückhaltend erlebt. Woher der Kampfesmut?
Sie haben den netten, lieben, freundlichen und euphorischen İlker deshalb immer erlebt, weil das auch eine Rolle ist, die von uns Migrantenkindern erwartet wird. Wir sollen freundlich sein. Wir sollen nett sein. Das wird uns eingetrichtert: Wenn du es in diesem Land zu etwas bringen willst, musst du freundlich sein. Und es ist auch okay, freundlich zu sein. Aber es ist auch okay, irgendwann nicht mehr freundlich zu sein und seiner Wut Ausdruck zu geben. Und angesichts der Berichterstattung über die deutschen Oscar-Nominierungen ist mir einfach der Kragen geplatzt.
Ich habe mir gedacht, in Anbetracht der politischen Situation wäre es wichtig, auch mal ein Gegenbeispiel zur negativen Debatte um die Migration zu liefern.
Warum sind Sie jetzt damit an die Öffentlichkeit gegangen?
Vorher hab ich das Thema Rassismus auf subtile Weise in meine Filme gebracht, aber offenbar reicht das nicht. Du kannst eine Oscar-Nominierung bekommen und wirst trotzdem übersehen. Oder du wirst nicht beim Namen genannt. Weil dein Name eben kein deutscher ist. Und ich kann es nicht oft genug betonen: Mir geht es hier nicht um mich. Ich bin in einer privilegierten Position, in der ich mir aussuchen kann, wo auf der Welt ich arbeiten und leben möchte. Es geht mir hier darum, dass ich die Bühne nutze, die mir gerade gegeben wird, um all den Menschen mit Migrationsgeschichte eine Sichtbarkeit zu verschaffen. Und die Medien darauf aufmerksam zu machen, dass sie da eine Verantwortung tragen.
Haben Sie zum ersten Mal strukturellen Rassismus erlebt?
Natürlich nicht! Ich kann Ihnen viele Beispiele geben: Sie laufen auf der Straße und werden als Einziger von ganz vielen von der Polizei angehalten. Sie reisen in die USA und werden an der Grenze rausgezogen und in einen Raum gepackt mit anderen Männern, die ähnlich aussehen wie Sie. Racial profiling. Und der Rassismus, der mir entgegenschlägt, ist vergleichsweise klein. Mein Haus wurde nie angezündet, mir wurde nie ins Gesicht gespuckt. Aber der Rassismus von 2024 ist viel raffinierter, er ist subtil und perfide. Die Nazis von heute tragen Anzüge und Krawatten. Sie mischen sich unter uns und zersetzen unsere Gesellschaft, ohne dass wir es merken. Wir müssen alle wachsam sein. Nachlässigkeit und Ignoranz dürfen wir nicht mehr dulden. Damit beginnt es nämlich. Darauf fußt jede weitere Form von Rassismus.
Ist es wirklich Rassismus, wenn die Zeitungen Ihren Namen falsch schreiben?
Ich möchte mich nicht als Opfer darstellen, und ich habe von Deutschland auch wirklich viel Gutes bekommen. Ich habe hier meine Arbeit machen können. Ich habe viel darüber nachgedacht, ob ich dieses Wort struktureller Rassismus in meinem Post verwende. Aber Rassismus hat viele Facetten. Faulheit, Nachlässigkeit und Ignoranz ist eine davon. Genauso wie ich mich bemühe, dieser Gesellschaft etwas zu geben, ein vollwertiges Mitglied zu sein und meine Pflichten als Bürger und Mitmensch wahrzunehmen, erwarte ich von den Medienmacher:innen in diesem Land Aufmerksamkeit. Ein Beispiel: Die Academy in den USA schrieb mir neulich eine E-Mail und bat um ein Audiofile mit der korrekten Aussprache meines Namens. So schwer ist es nicht. Man kann einfach fragen, sich ein bisschen bemühen. Und es macht einen Riesenunterschied.
Er kam aus Kayseri in Anatolien. Von dort ging er nach Istanbul, um Arbeit zu suchen, arbeitete kurze Zeit als Schuhmacher. Die ganze Familie hat mitgearbeitet, mein Vater hat damit angefangen, als er sechs war, indem er Zeitungen ausgetragen hat. Und dann ist mein Großvater von Deutschland angeheuert worden. Er kam nach Berlin und hat hier in der AEG-Fabrik gearbeitet. Richtig lesen und schreiben hat er erst in Deutschland gelernt. 1984, im Jahr, als ich geboren wurde, ist er wieder zurückgegangen. Er hat seinen Teil geleistet in Deutschland, hat dieses kaputte Land wieder mit aufgebaut und ist zurück. Ich bin im Wedding am Gesundbrunnen aufgewachsen.
Sie sind in Berlin geboren, dann aber mit zwölf Jahren mit Ihren Eltern nach Istanbul gezogen und dort weiter zur Schule gegangen. Wie war das?
Ich habe in Istanbul Johannes Duncker kennengelernt, mit dem ich angefangen habe, Filme zu machen. Das war eine prägende Begegnung, aus der eine tiefe Freundschaft entstanden ist. Durch die Zeit in Istanbul habe ich auch die Türkei ganz anders wahrgenommen. Bis dahin war sie das liebe Urlaubsland gewesen. Aber wenn man da einen Alltag hat, das Schulsystem erlebt, sich morgens die Krawatte binden und die Nationalhymne singen muss, dann wird einem dieser Nationalismus suspekt. Und ich habe ein sehr schwieriges Verhältnis zu jeder Form von Nationalismus. Nicht nur zum türkischen, auch zum deutschen. Deshalb prangere ich auch diesen nationalistischen Ton in den Medien an.
Ist es bei den Oscars nicht ein bisschen so wie beim Fußball, dass man einfach für die Nominierten aus dem eigenen Land fiebert?
Man kann auch ein gesundes Verhältnis zu seinem Land haben. Aber dann sagt doch auch, dass hier jemand dabei ist, der eine Migrationsgeschichte hat. Nennt unsere Namen. Warum ist das so schwer?
Sie leben in Berlin. Was bedeutet die Stadt für Sie selbst, für Ihre Arbeit?
Ich bin hier groß geworden, meine Familie lebt hier, ich kenne mich aus. Das ist was Schönes. Mich inspiriert Berlin, ich lebe sehr gern hier, wenn auch nicht im Winter. Ich habe meinen Frieden mit der Stadt gemacht. Als ich aus Istanbul zurückkam, war mir Berlin erst mal zu piefig. Das war 2002, ich kam aus dieser Riesenmetropole und fand das hier alles viel zu aufgeräumt. Aber mittlerweile bin ich sehr glücklich, Berliner sein zu dürfen und wertschätze es hier. Die USA gelten als das Land der großen Freiheit, aber das ist alles Pillepalle. Wir sind hier wirklich frei. Also vergleichsweise frei.
Sie sagten gerade, Sie könnten jetzt überall auf der Welt arbeiten. Zieht es Sie woanders hin?
Das hängt auch ein bisschen von der politischen Entwicklung in den nächsten Jahren ab. In der Türkei gibt es viele Kolleginnen und Kollegen, die da nicht mehr leben wollen, obwohl sie immer gesagt haben, sie wollen die Türkei nicht verlassen. Aber jetzt halten sie es nicht mehr aus. Ich weiß nicht, wie Deutschland in 20 Jahren aussieht. Ob wir es schaffen, die rechten Tendenzen in Schach zu halten oder diese Leute in die Regierung kommen.
Ihr Film spielt in einer Schule, im Mittelpunkt steht eine idealistische Lehrerin. In der deutschen Gesellschaft wird diesem Beruf wenig Wertschätzung entgegengebracht. Wie sind Sie auf das Thema gekommen?
Schule ist ein Ort, der alle tangiert. Schule ist politisch. Und uns war von Anfang an klar, dass wir auf diesem Feld viele Ambivalenzen bespielen können: Was ist richtig, was falsch? Wie geht man mit einer Situation um? Das sind die Grundpfeiler von guten Geschichten. Wir haben mit vielen Menschen aus dem Schulbetrieb gesprochen: Schulleiter:innen, Lehrer:innen, Schulpsycholog:innen, Eltern, Schüler:innen, Schulsekretär:innen. Was uns aufgefallen ist, ist die Mehrfachbelastung der Lehrkräfte. Vielleicht haben Sie in dem Film bemerkt, dass die Lehrerin immer mindestens zwei Dinge gleichzeitig tut. Diese Dauerüberforderung der Lehrkräfte, vor der wollen wir uns verbeugen, einen Film schaffen, der die Arbeit dieser Menschen wertschätzt, weil sie oft unterschätzt wird.
Was bedeutet ein Oscar, wenn man ihn bekommt?
Ob wir das Ding gewinnen oder nicht, ist gar nicht so entscheidend. Die Aufmerksamkeit, die mir jetzt zuteilwird, freut mich deshalb, weil ich eine Debatte anstoßen kann, die mir wirklich wichtig ist, weil es auch um die folgenden Generationen geht. Menschen schreiben mir, dass sie ihren Kindern deutsche Namen gegeben haben, weil sie Angst hatten, dass sie sonst diskriminiert werden. Mein Vater hat gestern etwas Ermutigendes gesagt, weil er auch sieht, dass es mich aufwühlt. Er hat gesagt: Du, weißt du, warum wir uns so gern an Mohammed Ali erinnern. Nicht weil er im Ring so gut war, sondern weil er sich außerhalb des Rings engagiert hat. – Und da ist was dran.
Der Interviewpartner legt Wert auf die Verwendung des Doppelpunktes zur Sichtbarmachung aller Geschlechter.