Bundesbeauftragte Ataman sieht „Zeitenwende“ : Mehr Deutsche sehen Handlungsbedarf gegen Diskriminierung

Artikel von Karin Christmann

 

 

 

Beim Thema Antidiskriminierung gebe es „keine gesellschaftliche Spaltung“, sagt die Bundesbeauftragte Ferda Ataman. Eine neue Studie zeigt einen grundlegenden Wandel in der Haltung der Deutschen.

 

 

 

Ferda Ataman, Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, stellt die Studie «Diskriminierung in der Einwanderungsgesellschaft» der Bertelsmann Stiftung in der Bundespressekonferenz vor. © Foto: dpa/Kay Nietfeld

 

Ferda Ataman, Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, hat die Bundesregierung aufgefordert, die geplante Überarbeitung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes nicht zu verschleppen. Die Reform sei überfällig und werde von der Gesellschaft eingefordert, sagte Ataman am Dienstag in Berlin aus Anlass der Vorstellung einer neuen Studie.

Unter dem Titel „Diskriminierung in der Einwanderungsgesellschaft“ hat ein Team der Bertelsmann-Stiftung untersucht, wie Menschen in Deutschland das Thema wahrnehmen. Es handelt sich um die Nachfolgestudie zu einer Untersuchung aus dem Jahr 2008. Zugrunde liegt eine repräsentative Befragung der deutschsprachigen Wohnbevölkerung ab 18 Jahren. Co-Studienleiterin Ulrike Wieland stellte fünf zentrale Erkenntnisse vor.

  1. Das Interesse der Bevölkerung am Thema ist gestiegen. Unterschieden wird in der Untersuchung nach Sinus-Milieus. Diese unterteilen die Gesellschaft in Gruppen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Mittlerweile gibt in allen zehn Milieus eine Mehrheit an, sich für das Thema Antidiskriminierung zu interessieren. Das war 2008 noch nicht der Fall. Insgesamt geben der Studie zufolge derzeit 77 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung an, sich sehr oder etwas für das Thema Gleichbehandlung zu interessieren. 2008 waren es 63 Prozent.
  2. Die Unterstützung für Antidiskriminierungspolitik ist gestiegen. 66 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, durch Antidiskriminierungspolitik gehe es langfristig allen besser. 2008 lag dieser Anteil etwas niedriger bei 59 Prozent. Der Anteil der Menschen, die Antidiskriminierungspolitik für überflüssig halten, ist zurückgegangen, aber nach wie vor handelt es sich hier um eine große Gruppe: 30 Prozent der Bevölkerung sehen das so.
  3. Wesentlich mehr Menschen als noch 2008 äußern, selbst Diskriminierungserfahrungen zu machen. Der Anteil ist beispielsweise im Bereich der Diskriminierung wegen ethnischer Herkunft von sechs auf 13 Prozent gestiegen. Unter den Menschen mit Migrationshintergrund stimmt jeder Dritte der Aussage zu.
  4. Unabhängig von eigenen Erfahrungen ist der Anteil der Menschen gewachsen, die rassistische Diskriminierung in der Gesellschaft wahrnehmen und Handlungsbedarf sehen. Dass mehr getan werden sollte, findet heute mit 70 Prozent eine klare Mehrheit der Befragten – anders als 2008. Allerdings teilt nur knapp die Hälfte der Befragten (49 Prozent) die Ansicht, dass Menschen, die als fremd oder nicht weiß wahrgenommen werden, stark oder sehr stark diskriminiert werden.
  5. Als verantwortliche Akteure werden zunächst die Politik sowie an zweiter Stelle Ämter und Behörden benannt. Die Antidiskriminierungsstelle, der Ataman vorsteht, ist wenig bekannt, nur jede vierte befragte Person kennt sie. Diese Zahl ist seit 2008 nahezu unverändert.

In der Summe sprach Ataman von einer „Zeitenwende“ in der Antidiskriminierungspolitik. Sie benutze den Begriff bewusst, betonte sie. „Es gibt keine gesellschaftliche Spaltung oder Polarisierung bei dem Thema, wie uns manche weismachen wollen. Antidiskriminierungspolitik ist keine Identitätspolitik oder eine Frage von Woke-Sein, wie es manchmal abgetan wird. Antidiskriminierung ist Gesellschaftspolitik für alle.“

Ataman führte an, die Studie zeige ganz deutlich, dass die Haltung zum Thema Antidiskriminierung in Deutschland sich grundlegend geändert habe.

Allerdings zeigen die Daten auch, dass es teils große Unterschiede zwischen den Sinus-Milieus gibt. Dazu einige Beispiele: Aus dem „prekären“ Milieu glauben nur 34 Prozent, Menschen, die als fremd oder nicht weiß wahrgenommen werden, würden stark oder sehr stark diskriminiert. Im „postmateriellen“ Milieu sind es hingegen 64 Prozent.

Im „traditionellen“ Milieu glauben 29 Prozent der Befragten, Transpersonen würden stark oder sehr stark diskriminiert. Im „neo-ökologischen“ Milieu sind es hingegen 60 Prozent. Sogar noch größer ist die Diskrepanz bei der Frage nach dem entsprechenden Handlungsbedarf.

Der demographische Wandel hat großen Einfluss

Abgefragt wurde auch folgendes Statement: „Das Thema Diskriminierung von Minderheiten wird von den Medien ungebührlich aufgebauscht.“ Im „nostalgisch-bürgerlichen“ Milieu finden 72 Prozent, das stimme eher oder ganz genau. Im „postmateriellen“ Milieu ist die Zahl sehr viel niedriger, liegt aber immer noch bei 33 Prozent.

Anti-Diskriminierung sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen, ist allerdings das Fazit Atamans. Es handele sich nicht um ein Nischenthema, „fast jeder Mensch kann früher oder später Diskriminierungserfahrungen machen“.

Ataman schilderte Beispiele aus der Beratungspraxis: Eine Familie mit türkischem Nachnamen, die erst dann eine Wohnung findet, als sie unter dem traditionell deutschen Geburtsnamen der Mutter sucht. Ein IT-Mitarbeiter, dessen Vertrag nicht verlängert werde, weil er zu alt sei. Eine Rollstuhlfahrerin, die vom Busfahrer bei strömendem Regen an der Haltestelle zurückgelassen wird, weil er keine Lust hat, die Rampe auszuklappen. Eine schwangere Frau, die ihrer Leitungsposition enthoben wird, mit der Begründung, sie sei nicht mehr so belastbar.

Ataman will mit neuer Kampagne werben

Co-Studienleiter Ulrich Kober sagte, zu einem guten Teil seien die Veränderungen in der Einstellung auf den demographischen Wandel zurückzuführen. 2008 habe jeder fünfte Befragte einen Migrationshintergrund gehabt, nun sei es jeder vierte gewesen. Das sei aber nicht der einzige Treiber. Die Sinus-Milieus hätten sich auch verschoben. Offene Milieus würden wachsen, andere schrumpfen.

Der Schutz vor Diskriminierung sei in Deutschland mittelmäßig. Es gebe nur sehr wenig Schutz und Beratung für Betroffene. Ataman kündigte an, die Antidiskriminierungsstelle ab Herbst mit einer breit angelegten Werbekampagne bekannter machen zu wollen. Sie verstehe die geringe Bekanntheit als „Hausaufgabe und Handlungsauftrag“.Die Regierungen der vergangenen Jahre hätten das Thema verschlafen. Die Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz sei die „Straßenverkehrsordnung des Alltags“, aber im internationalen Vergleich ein schwaches Gesetz. Das Justizministerium habe sich bisher nicht festlegen wollen, wann es einen konkreten Vorschlag für die im Koalitionsvertrag verabredete Reform geben werde. „Das macht mir Sorgen“, sagte Ataman.

Konkret forderte sie, Betroffene müssten länger als die bisher festgelegten zwei Monate Zeit haben, den Rechtsweg zu beschreiten. Auch sei ein Problem, dass sämtliche Ansprüche individualrechtlich eingeklagt werden müssten und es keine Entscheidungen mit allgemeiner Wirkung gebe.