Gregor Gysi über Nahostkonflikt: »Wer Israelflaggen anzündet, ist nicht links«

 
 
 Linken-Außenpolitiker Gysi fordert die Regierung auf, in Israel zu vermitteln und dabei auch Verhandlungen mit der gemäßigteren palästinensischen Fatah zu führen. Antisemitische Proteste verurteilt er scharf.
© Christoph Soeder / picture alliance/dpa

SPIEGEL: Herr Gysi, Israels jüngste Annäherung an die arabische Welt und die Wahl des neuen US-Präsidenten hatten Hoffnung auf eine Entspannung des Nahostkonflikts genährt. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet jetzt die Lage eskaliert?

Gysi: Es hat mit der Schwäche des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu zu tun. Dieser hat veranlasst, ein palästinensisches Viertel in Jerusalem zwangszuräumen. Dabei wurde das Viertel 1956 von der Uno mit Absicherung Jordaniens den Palästinensern zur Verfügung gestellt. Netanyahu pocht darauf, dass damals nicht die Grundbücher geändert wurden. Aber wo sollen die Menschen jetzt hin, die dort leben? Durch diese falsche Politik wird die Stimmung unter den Palästinensern angeheizt.

SPIEGEL: Sie haben Verständnis für die Raketenangriffe der Hamas?

Gysi: Nein, selbstverständlich nicht. Die Angriffe der Hamas auf Israel sind klar völkerrechtswidrig. Selbst wenn man davon ausgeht, dass Krieg ist, dann ist nur die Bombardierung militärischer, niemals ziviler Ziele gestattet. Die Hamas schießen jedoch Raketen einfach ins Land, ohne Rücksicht auf zivile Opfer. Ebenso ist es völkerrechtswidrig, wenn Israel ein Bürogebäude in Gaza bombardiert, in dem internationale Journalisten arbeiten und leben.

SPIEGEL: Die israelische Armee teilte mit, in dem von Ihnen angesprochenen Gebäude hätte die Hamas »militärische Ressourcen«. Zudem hat Israel zuvor die dortigen Menschen gewarnt vor dem Angriff…

Gysi: … ja, es wurde gewarnt, weil dort internationale Presse sitzt. Bei Palästinensern geschieht das nicht, denn dann würden auch die Hamas-Kämpfer das Haus verlassen. Die Bombardierung eines solchen Bürogebäudes ist trotzdem nicht akzeptabel, und man kann auch bezweifeln, dass bei internationalen Journalisten »militärische Ressourcen« der Hamas lagern.

SPIEGEL: In der vergangenen Woche wiesen Sie auf die gemäßigtere Fatah hin, der Gruppe der Palästinenser im Westjordanland, die sich einen Machtkampf mit der Hamas liefert. Ihr Vowurf: Israel sei nicht auf Gesprächsangebote der Fatah eingegangen. Dabei hatte Netanyahu jahrelang Verhandlungen angeboten, und der führende Vertreter der Fatah, Mahmud Abbas, ist nicht drauf eingegangen.

Gysi: Tatsächlich hatte auch Abbas einmal Gespräche angeboten. Ich hatte das sogar vermittelt. Bedingung von Abbas jedoch war, dass neben den Regierungen der USA und Israels auch Russland teilnimmt, also ein weiteres ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrates. Darauf sind Israel und die USA, damals mit Donald Trump, nicht eingegangen, weil die Pläne zur Annexion zunächst nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den Vereinigten Arabische Emiraten und Israel von der israelischen Regierung aufgegeben wurden. Abbas sagte zu mir auch, er brauche ein Ziel für solche Gespräche mit der israelischen Regierung. Grundlage dafür kann jedenfalls nicht sein, wie viel Prozent des Westjordanlandes von Israel juristisch annektiert werden sollen.

SPIEGEL: Während die linke Opposition Netanyahu in Israel für die Angriffe auf Gaza kritisiert, wartet man vergeblich auf die Verurteilung der Hamas-Angriffe durch die Fatah. Finden Sie das richtig?

Gysi: Ich verurteile die Angriffe der Hamas klar und deutlich, aber die Fatah tut es nicht, um Sympathien bei den Palästinenserinnen und Palästinensern nicht zu verlieren. Unabhängig davon müsste es auch im Interesse Israels liegen, wenn es unter den Palästinensern mehr Zustimmung für die Fatah gäbe und nicht für die Hamas.

SPIEGEL: Aber zuletzt hatte die Fatah Wahlen in den Palästinensergebieten verhindert, also im Westjordanland und im Gaza-Streifen. War das ein Fehler?

Gysi: Es ist zu vermuten, dass die Hamas schon vor der Eskalation eine Mehrheit unter den Palästinensern gewonnen hatte. Das wäre nicht gut. Fatah und Hamas sind erfolglos, aber Hamas wirkt widerständiger. Meine Forderung an die westlichen Staaten ist: Wir müssen uns etwas einfallen lassen, wie wir die Fatah in den Palästinensergebieten so stärken, dass sie bei demokratischen Wahlen die Mehrheit erringt und nicht die Hamas. Die Politik Netanyahus stärkt indirekt die Hamas, und das weiß er auch.

SPIEGEL: In ganz Deutschland gab es am Wochenende Demonstrationen, bei denen Israelflaggen brannten und antisemitische Sprüche gerufen wurden. Wie finden Sie es, dass manche dieser Proteste sich als »links« verstehen?

Gysi: Ich habe Verständnis für Demonstrationen, bei denen Menschen sagen, sie seien es leid und wollten endlich ihren eigenen Staat. Völlig inakzeptabel ist, diesen Unmut mit Antisemitismus zu verbinden. Wer antisemitische Sprüche ruft oder Israelflaggen anzündet, ist nicht links und kämpft nicht für die Zweistaatenlösung, sondern verhindert sie eher.

SPIEGEL: Die Linke in Berlin-Neukölln wies darauf hin, dass Deutschland Waffen nach Israel verkauft. Damit, so heißt es in einer Mitteilung, unterstütze die Bundesregierung die israelische Regierung und ihre »Vertreibungspolitik«. Halten Sie das für angemessen, kurz nach einem Raketenangriff der Hamas?

Gysi: Ich hätte das so nicht gesagt. Aber natürlich sind wir Linke dafür, dass Deutschland überhaupt aufhört, Waffen zu verkaufen, insbesondere in Spannungsgebiete. Das gilt auch, aber keineswegs nur für Israel.

SPIEGEL: Die Linke stellt sich besonders gegen die Lieferung der deutschen U-Boote nach Israel. Diese werden von Israel jedoch nicht offensiv eingesetzt, sondern als Rückversicherung und abschreckende Zweitschlagskapazität für den Fall, dass Iran einen Atomangriff erwägt. Ist das nicht ein legitimes Interesse Israels?

Gysi: Die Bundesregierung hat keine Kontrolle über die Art und Weise des Einsatzes von verkauften U-Booten. Wir sind dafür, an keinen Staat U-Boote zu liefern. Auch nicht an die Türkei oder an Saudi-Arabien. Deutschland sollte im Nahostkonflikt endlich eine Vermittlerrolle übernehmen. Das wäre auch die angemessenere Schlussfolgerung aus der deutschen Geschichte.

SPIEGEL: Grüne und SPD bekräftigten zuletzt die Rüstungskooperation mit Israel. Ist das für die Linke ein Hindernis für eine mögliche grün-rot-rote Regierungsbildung?

Gysi: Das werden wir sehen. Da gibt es aber noch andere schwierige Themen zu besprechen.

SPIEGEL: Ist der islamische Antisemitismus aufgrund von Zuwanderung und gescheiterter Integration inzwischen ein genauso großes Problem wie der urdeutsche rechtsradikale Antisemitismus?

Gysi: Schon, wir haben auch ein Problem mit islamischen Antisemitismus in Deutschland. Was ich immer den Vernünftigen sage, sie müssen schärfer dagegen protestieren, dass ihre Religion missbraucht wird. Die Islamisten sind ein wachsendes Problem, aber natürlich gibt es dafür auch Gründe, die in der Politik der westlichen Staaten liegen.

SPIEGEL: Halten Sie es für legitim vor einer Synagoge zu demonstrieren?

Gysi: Unter bestimmten Bedingungen, ja. Wenn es aber um Israels Politik geht, ist dies der falsche Ort. Steine auf Synagogen zu werfen, ist inakzeptabel.

SPIEGEL: Unter welchen Bedingungen ist es denn legitim, vor Synagogen zu demonstrieren?

Gysi: Wenn zum Beispiel jüdische Frauen mehr Zugang zur Synagoge fordern, dürfen sie vor der Synagoge prostieren und ihrer Forderung Ausdruck verleihen. Das ist genauso legitim wie der Protest katholischer Frauen vor einer katholischen Kirche für Frauen in kirchlichen Ämtern.

SPIEGL: Es gibt Juden in Deutschland, die sagen, sie sitzen auf gepackten Koffern. Sie selbst haben jüdische Vorfahren und wurden mehrfach antisemitisch angegriffen. Wäre Israel ein Zufluchtsort für Sie?

Gysi: Dazu erzähle ich Ihnen eine Geschichte. Der Jazzmusiker Coco Schumann hatte in Deutschland zunächst nie erzählt, dass er in Ausschwitz war. Er sagte, er wollte normal behandelt werden, und andere wären im Umgang mit ihm sonst gehemmt gewesen. Er sei nicht anders, weil er Jude ist, aber einen Unterschied gebe es doch: In seinem Flur stand immer ein gepackter Koffer.

SPIEGEL: Gilt das für Sie auch?

Gysi: Nein, ich glaube, wir können uns auf unseren Rechtsstaat verlassen. Jüdinnen und Juden müssen wir in Deutschland schützen. Das werden wir auch tun. Aber ich kann es auch niemandem verdenken, die oder der einen gepackten Koffer zur Sicherheit bereitstellt.

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