Ist der „Atatürk-Mythos“ das Hindernis für die Kurdenfrage?

 

                                       Von Taner Akcam 

                       

 

 


                                               

                                                               Das Bild von Taner Akcam (Archiv)

Wir erleben eine große Verwirrung und haben Schwierigkeiten, den aktuellen Prozess zu verstehen und ihm einen Sinn zu geben. Einerseits gibt es einen enormen Druck, insbesondere auf die CHP. Die CHP soll quasi zerschlagen – ja vernichtet – werden. Andererseits will man eine Lösung für die Kurdenfrage finden, und es werden ernsthafte Schritte unternommen. Viele von uns schreien: „Das ist nicht möglich!“, weil wir die Situation als einen eklatanten Widerspruch empfinden.

Wir betrachten den Druck auf die Medien und insbesondere die Verhaftungen in CHP-geführten Gemeinden als ein klares Beispiel für „Willkür“ und „Rechtsmissachtung“. Angesichts dieses Drucks und der Verhaftungen vertreten wir die Meinung, dass „die Kurdenfrage ohne einen Rechtsstaat nicht gelöst werden kann“. Wenn kein gesellschaftlicher Konsens gesucht wird, eine Partei, die schätzungsweise 35 Prozent der Gesellschaft hinter sich hat, zerschlagen werden soll und die kurdische Öffnung nicht als Demokratisierungsprozess gesehen wird, kann das nur eines bedeuten: Man will die Kurdenfrage nicht lösen. Das ist die Schlussfolgerung, zu der wir gelangen...

Das Geschehen können wir nur auf eine Weise erklären: Erdoğan will die Kurden auf seine Seite ziehen, um wiedergewählt zu werden. Am Ende dieses Prozesses wird es weder eine Demokratisierung noch eine Lösung der Kurdenfrage geben. Denn ohne Demokratie, ohne die Etablierung eines Rechtsstaates, kann die Kurdenfrage nicht gelöst werden!

Doch es gibt noch eine andere Möglichkeit: nämlich dass die obige Erklärung die Situation nicht vollständig erfasst...

Die Unterscheidung zwischen Akteur und Beobachter

Hannah Arendt ist eine von mir sehr geschätzte Politikwissenschaftlerin. Sie empfiehlt bei der Annäherung an und Analyse von Fakten eine Unterscheidung: die zwischen Akteur und Beobachter. „Die Herangehens- und Wahrnehmungsweise eines Akteurs an ein Ereignis unterscheidet sich grundlegend von der eines Beobachters“, sagt sie. Mit Arendts Blickwinkel möchte ich das oben skizzierte Bild als die ‚Haltung eines Akteurs‘ erklären.

Die Sicht des Akteurs sieht das Geschehen als großen Widerspruch und bewertet es als „unverständlich“.

Vielleicht ist es uns möglich, etwas anderes in dem Geschehen zu sehen, wenn wir es als Beobachter betrachten. Nämlich, dass es keine „Unverständlichkeit“ gibt. Es gibt keinen Widerspruch zwischen der Zerschlagung der CHP – bis hin zur Absicht, sie zu eliminieren (ob es gelingt, ist eine andere Frage) – und der Lösung der Kurdenfrage. Im Gegenteil, diese beiden Tatsachen ergänzen sich.

Wenn es um „Zerschlagen und Lösen“ geht, dann meinen es Erdoğan (und der Staat) in beiden Punkten sehr ernst. Das heißt, die Regierungskreise denken tatsächlich daran, die Kurdenfrage zu lösen, während sie eine Partei zerschlagen, die von fast 35 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird! Was wir für unmöglich halten, ist genau das, was Erdoğan als Lösung anbietet! Es gibt also keinen Widerspruch!

Meine Frage ist einfach: Wissen und sehen diejenigen, die die Kurdenfrage lösen wollen, nicht, was wir für „unmöglich“ halten? Sind sie zu dumm, um das zu erkennen? Hier muss vielleicht ein Beobachter eingreifen.

Kann die Kurdenfrage nicht gelöst werden, ohne die „Weißen Türken“ zu zerschlagen?

Als Beobachter lohnt es sich zu fragen, ob die Kreise um Erdoğan und Bahçeli vielleicht so etwas denken: „Wenn wir die in der CHP verkörperte Mehrheit der ‚Weißen Türken‘ nicht unter Druck setzen, werden sie sich gegen die Lösung der Kurdenfrage stellen. Wenn wir sie aber unter verschiedenen Vorwänden zerschlagen, werden sie nach breiter Unterstützung suchen. Und letztendlich werden sie zu dem Punkt kommen, an dem sie sagen: ‚Wir sind für die Lösung der Kurdenfrage‘.“

Ich kann sagen, dass es ein Bild gibt, das diese Denkweise stützt. Es wird ein Unterschied zwischen der Haltung der CHP-Führung zur kurdischen Öffnung und der Basis beobachtet. An der Spitze zeigen die CHP-Führer eine positive Haltung gegenüber der kurdischen Öffnung, während es an der Basis eine starke Tendenz zur Ablehnung gibt. Zeitungen wie die Sözcü

 und Journalisten wie Fatih Altaylı können als Vertreter dieser „Basis“ angesehen werden.

Diejenigen, die ein so umfassendes Projekt wie die kurdische Öffnung in Angriff nehmen, denken möglicherweise: „Wenn wir die CHP-Kreise völlig frei agieren ließen, würden sie sich um den ‚Atatürk-Mythos‘ scharen und die kurdische Öffnung definitiv verhindern. Durch diese Politik der Zerschlagung bringen wir sie in eine Position, in der sie der kurdischen Öffnung nicht mehr widersprechen können.“

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Faktor, der diese Argumentation stützt. Das hiesige „Zerschlagen (CHP) und Lösen (kurdische Öffnung)“ ist eigentlich Teil eines größeren Bildes. Das Problem ist also nicht auf das Dilemma „Zerschlagen – Lösen“ beschränkt, das innerhalb des heutigen Systems/Regimes behandelt werden kann.

1923 ist vorbei, eine Neugründung ist notwendig

Der Prozess, in den wir eingetreten sind, ist ein Prozess der „Neugründung“. Bahçeli hat dies mehrfach zum Ausdruck gebracht. Aus diesem Grund bezeichnete er auch Öcalan als „Gründervater“. Wir können getrost behaupten: Die kurdische Öffnung ist nicht darauf ausgerichtet, die Kurdenfrage innerhalb dieses Regimes zu lösen, sondern sie ist eigentlich ein Projekt zur Gründung eines neuen Staates. Also ein Projekt, um einen Staat zu beenden, der 1923 versucht wurde und nicht funktionierte. Das eigentliche Ziel ist 1923.

Es geht also um das Dilemma „Zerstören – Aufbauen“. Die Zerstörung des alten Regimes (1923) und der Aufbau des neuen Regimes können nur dann erfolgreich sein, wenn die Gründerpartei von 1923, die CHP, zerstört oder so weit zerschlagen wird, dass sie ihre Stimme nicht mehr erheben kann. Anders ausgedrückt: Erdoğan und Bahçeli versuchen, den „Atatürk-Mythos“ zu überwinden, auch wenn sie ihm nicht direkt widersprechen können. Ist es so schwer zu sehen, dass die Kurdenfrage nicht mit dem „Atatürk-Mythos“ gelöst werden kann?

Wenn es um eine Neugründung geht, werden wir noch lange vor den Wahlen über eine neue Gründungsverfassung sprechen. Es wird bereits gesagt, dass ein solcher Verfassungsentwurf existiert. Die Frage ist: Was werden wir tun, wenn uns ein Entwurf vorgelegt wird, in dem die Staatsbürgerschaft neu definiert wird und dem die Kreise, die einen „Rechtsstaat“ fordern, nicht viel entgegensetzen können?

Betrachtet man das Problem aus dieser Perspektive, wird besser verständlich, welches Ergebnis vom Druck auf die CHP erwartet wird. Es geht darum, den kemalistischen Widerstand gegen den mit den Kurden zu gründenden neuen Staat wenn nicht zu beseitigen, so doch zu minimieren... Das heißt, wenn die CHP das Problem nicht wie Erdoğan und Bahçeli mit einer neuen Gründungsmission angehen und eine Perspektive entwickeln kann, die sich mit 1923 auseinandersetzt, könnte sie zum Verlierer des Prozesses werden.

Ob Erdoğan aus dieser Rechnung als Präsident hervorgehen kann, weiß ich nicht! Angesichts der Metallermüdung von 25 Jahren und des Ausmaßes der Wirtschaftskrise erscheint es ziemlich schwierig, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass dies für diejenigen, die dieses Projekt zur Neugründung eines Staates in Angriff nehmen, ein unwichtiges Detail ist. Könnte es sein, dass die „mehr oder weniger“ sichtbaren Spannungen und Differenzen zwischen Bahçeli und Erdoğan genau hier liegen?