Die wachsende Macht des religiösen Reaktionarismus in der Türkei und seine blutige Geschichte

Von: Can Taylan Tapar

 

 

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                                                         Das  Bild Von: Can Taylan Tapar( Archiv)

Einleitung: Ein Angriff und die tiefer liegenden Probleme

Im Juni 2025 ereignete sich ein Anschlag auf das Leman-Magazin. Dieser Angriff lüftete den Schleier über dem sogenannten Bild der „Normalität“ in der Türkei. Dieser Vorfall war nicht die Tat einer einzelnen fanatischen Gruppe. Vielmehr ist dieser Angriff Teil der blutigen Geschichte des religiösen Reaktionarismus. Die Wurzeln dieses Reaktionarismus reichen bis in die osmanische Zeit zurück. In der Zeit der Republik nutzte der Staat den Reaktionarismus als Waffe gegen die Linke und fortschrittliche Bewegungen. Mit dem AKP-Erdoğan-Regime wurde dieser Reaktionarismus zum Staat selbst.

Die Angreifer wurden von den höchsten staatlichen Stellen ideologisch ermutigt. Die Polizei sah dem Angriff nur zu. Die Justiz verfolgte nicht die Angreifer, sondern die Opfer. Das beweist, dass es sich nicht um einen einfachen Kriminalfall handelt. Es ist eine Machtdemonstration des Regimes. In diesem Artikel werde ich den Angriff auf Leman als Beispiel nehmen. Ich werde die historischen Grundlagen des religiösen Reaktionarismus in der Türkei, seine Verbindungen zu imperialistischen Mächten, seine Klassengrundlagen und seine Rolle im heutigen Regime analysieren.

Der Angriff auf Leman: Eine staatlich unterstützte Provokation

Die Ereignisse vom 30. Juni 2025 sind ein gutes Beispiel dafür, wie das Regime funktioniert. Der Prozess begann damit, dass eine Karikatur von Leman in den sozialen Medien zur Zielscheibe gemacht wurde. Danach schalteten sich Justiz und Regierung ein. Die Erklärungen des Justiz- und des Innenministers waren keine rechtliche Bewertung. Sie waren vielmehr eine Anweisung an die Angreifer, aktiv zu werden. Paramilitärische Banden versuchten unter Polizeischutz, das Gebäude des Magazins anzugreifen und riefen dabei Slogans wie „Es lebe die Scharia“.

Bei diesem Vorfall sehen wir, dass der Staat das Recht nicht für alle gleich anwendet. Die Angreifer wurden kurz nach ihrer Festnahme wieder freigelassen. Die Akademikerin Aslı Aydemir, die in den sozialen Medien auf den Angriff reagierte, wurde jedoch unter einem erfundenen Vorwurf verhaftet. Vier Mitarbeiter von Leman wurden wegen „Aufstachelung des Volkes zu Hass und Feindseligkeit“ inhaftiert.

Die Botschaft ist klar: Das Regime betrachtet die Gewalt, die seiner Linie folgt, als legitim. Selbst die kleinste zivile Reaktion gegen diese Gewalt wird als „Terror“ gebrandmarkt und bestraft. Das Recht ist zu einem Unterdrückungsinstrument geworden, die Justiz zu einem Mechanismus zur Vernichtung von Gegnern. Der Angriff auf Leman richtet sich nicht nur gegen ein Satiremagazin. Er ist ein Generalangriff auf kritisches Denken und ein säkulares Leben.

Die blutige Geschichte des religiösen Reaktionarismus in der Türkei

Um den heutigen religiösen Faschismus zu verstehen, müssen wir seine Geschichte betrachten. Diese Geschichte ist voll von Massakern und politischen Morden. Jede fortschrittliche Bewegung in der Türkei wurde mit einem blutigen Angriff des religiösen Reaktionarismus konfrontiert. Hier sind einige Beispiele:

  • Pogrom von Thrakien 1934 und Vermögenssteuer 1942: Diese Ereignisse zeigen die ausgrenzende Haltung der jungen Republik gegenüber Minderheiten. Aufgehetzte Gruppen griffen jüdische Bürger an. Mit der Vermögenssteuer wurde das Kapital von Nicht-Muslimen beschlagnahmt.

  • Pogrom von Istanbul 1955 (6.-7. September): Der Staat organisierte eine Provokation mit der Lüge, auf Atatürks Haus sei eine Bombe geworfen worden. Griechische, armenische und jüdische Bürger in Istanbul wurden zum Ziel. Hunderte von Häusern und Geschäften wurden geplündert.

  • 1960er-70er Jahre (Gewalt gegen die Linke): Der Staat organisierte den religiösen Reaktionarismus als eine Kraft gegen die wachsende Arbeiter- und Jugendbewegung. Revolutionäre Jugendliche wurden zur Zielscheibe. Studenten wie Turan Emeksiz (1960) und Battal Mehetoğlu (1970) wurden ermordet. Der „Blutsonntag“ von 1969 ist das deutlichste Beispiel dafür.

  • Massaker von Maraş 1978 und Çorum 1980: Diese Massaker ebneten den Weg zum Putsch von 1980. Faschistische und religiöse Gruppen griffen in Zusammenarbeit mit dem Tiefen Staat alevitische und linke Stadtteile an. Ziel war es, eine Bürgerkriegsatmosphäre zu schaffen und einen Militärputsch vorzubereiten.

  • 1990er Jahre (Morde an Intellektuellen und staatlich unterstützter Terror): In dieser Zeit wurden säkulare und fortschrittliche Intellektuelle systematisch angegriffen.

    • Morde an säkularen Intellektuellen: Wichtige Intellektuelle wie Bahriye Üçok (1990), Uğur Mumcu (1993) und Ahmet Taner Kışlalı (1999) wurden ermordet. Die Kräfte hinter diesen Morden wurden nie vollständig aufgedeckt.

    • Massaker von Sivas (1993): 33 Intellektuelle und Künstler wurden in einem Hotel in Sivas verbrannt. Die Sicherheitskräfte des Staates sahen dem stundenlangen Massaker nur zu. Dies zeigte deutlich, dass der Staat den Reaktionarismus schützt.

    • Morde durch Hisbollah und IBDA-C: Die vom Staat geduldete Hisbollah griff vor allem im Südosten kurdische Patrioten und Linke an. Menschen wurden mit grausamen Methoden wie der „Schweinefessel“ getötet.

  • 2000er Jahre und die AKP-Ära:

    • Mord an Hrant Dink (2007): Der armenische Journalist Hrant Dink wurde durch ein Staatsverbrechen ermordet. Obwohl Polizei und Gendarmerie von den Plänen wussten, ließen sie den Mord zu.

    • Massaker im Zirve-Verlag in Malatya (2007): Drei christliche Missionare wurden als Ergebnis der zunehmenden Hassreden gegen Missionare getötet.

  • 2010er Jahre (IS-Massaker und die Verantwortung des Staates): Die Unterstützung des AKP-Regimes für dschihadistische Gruppen in Syrien führte dazu, dass die Gewalt in die Türkei getragen wurde.

    • Massaker von Suruç und am Hauptbahnhof von Ankara (2015): Der IS ermordete 33 sozialistische Jugendliche in Suruç und 103 Menschen bei einer Friedenskundgebung in Ankara. Die nachrichtendienstlichen Versäumnisse des Staates zeigen die politische Verantwortung des Regimes.

    • Anschlag auf den Reina-Club (2017): Dieser Angriff war eine Aktion des IS, die sich direkt gegen den säkularen Lebensstil richtete.

Diese blutige Liste beweist, dass der religiöse Reaktionarismus keine zufällige Wut ist. Er ist ein Werkzeug der herrschenden Klassen und des Staates, um alle fortschrittlichen Errungenschaften zu zerstören.

Reaktionarismus als Werkzeug des Imperialismus

Während des Kalten Krieges starteten die USA das „Projekt des Grünen Gürtels“. Ziel dieses Projekts war es, die Sowjetunion mit „gemäßigt islamischen“ Ländern zu umgeben. Gleichzeitig wollten sie linke und antiimperialistische Bewegungen in diesen Ländern unterdrücken. Die Türkei war der Mittelpunkt dieses Projekts.

Bewegungen wie die Fethullah-Gülen-Bewegung wurden in dieser Zeit unterstützt. CIA-Berichte betrachteten solche Gemeinschaften als „Gegengift zum Kommunismus“. Der Militärputsch vom 12. September 1980 war ein Ergebnis dieses Projekts. Die Militärjunta zerschlug die Linke und machte gleichzeitig die „türkisch-islamische Synthese“ zur offiziellen Ideologie. Ziel war es, das Klassenbewusstsein durch eine religiöse Identität zu ersetzen.

Die AKP-Ära: Institutionalisierung des Reaktionarismus

Die AKP baute auf dem Fundament auf, das der 12. September geschaffen hatte. In den ersten Jahren hat sie den Staat nicht durch eine Revolution, sondern langsam von innen heraus verändert, um ihre eigene Herrschaft zu errichten. Die Partnerschaft mit der Fethullah-Gülen-Bewegung war dafür das wichtigste Werkzeug. Mit dieser Partnerschaft wurden Armee, Justiz und Polizei übernommen.

Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 war das Ende dieser Partnerschaft. Dieses Ereignis gab Erdoğan die Möglichkeit, seine eigene absolute Macht, also ein Ein-Mann-Regime, zu errichten. Mit dem Ausnahmezustand und den Notstandsdekreten entwickelte sich das Regime zu einem zivilen Faschismus.

Die Klassengrundlagen: Eine auf Profit und Gehorsam gebaute Ordnung

Der Aufstieg des islamischen Reaktionarismus kann nicht getrennt von der neoliberalen Politik in der Türkei verstanden werden. Privatisierung und gewerkschaftsfeindliche Politik schwächten die Arbeiterklasse. Die Menschen wurden von den Almosen und den auf Gehorsam basierenden Hilfsnetzwerken von religiösen Gemeinschaften und AKP-nahen Stiftungen abhängig.

Gleichzeitig schuf die AKP eine neue, ihr loyale „islamistische reiche Schicht“. Staatsaufträge und öffentliche Mittel wurden an diese regierungstreuen Unternehmer weitergeleitet. Diese neue reiche Klasse verdankt ihre Existenz der Loyalität zum Regime. Für dieses Regime ist Religion sowohl ein Mittel zur Kontrolle der armen Massen als auch die Grundlage für die Geschäftsbeziehungen der regierungstreuen Kapitalisten.

Fazit: Ein vereinter und auf die arbeitende Klasse ausgerichteter Kampf gegen den Faschismus

Der Angriff auf das Magazin Leman ist nur ein kleiner Teil des Problems. Dieses Ereignis zeigt, dass die Türkei in eine islamisch-faschistische Diktatur abgleitet. In diesem Regime gelten nicht die Gesetze, sondern die Ideologie eines einzigen Mannes.

Angesichts dieser Situation ist die Aufgabe der Sozialisten klar: Sie müssen einen breiten Kampfbund gegen diese reaktionäre Belagerung schmieden. Dieser Kampf kann nicht auf die Verteidigung des Laizismus beschränkt sein. Der Laizismus muss mit kostenloser Bildung, kostenloser Gesundheitsversorgung, Verstaatlichung und dem organisierten Kampf der Arbeiterklasse verbunden werden. Der Kampf gegen den religiösen Faschismus ist auch ein Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung. Unsere Aufgabe ist es, in diesem Land die Grundlagen für eine egalitäre, freie und ausbeutungsfreie Zukunft zu legen, also für eine sozialistische Republik.