Warum Özdemir es in seiner Heimat nicht leicht haben wird

Artikel von Rüdiger Soldt/Faz
 
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                                                       Özdemir und Kretschmann im August beim Schäferlauf in Markgröningen © dpa

 

Die diesjährige Sommertour von Winfried Kretsch­mann war eine Abschiedstour. Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg eröffnete im Schwarzwald einen Wanderweg und besuchte ein Landschaftsschutzgebiet am Neckar – um zu zeigen, was ein Grüner in fast 14 Jahren in Regierungsverantwortung alles bewegen kann. Es war eine Verbeugung vor den Stammwählern, da die Wechselwähler von der Ökopartei derzeit wenig begeistert sind.

Kretschmann wird noch gut 18 Monate im Amt sein. Auf Pressekonferenzen gibt er schon mal „Empfehlungen für seinen Nachfolger“. Noch regiert er mit einer grün-schwarzen Koalition. Die läuft aber alles andere als harmonisch. Die CDU möchte die Regierungsakten über die beiden grün-schwarzen Legislaturperioden am liebsten schon jetzt im Landesarchiv abliefern. Sie hat aufgehört, die Koalition ideell zu begründen. Grün-Schwarz ist für die CDU nur noch Ballast. So wird nach der Wahl 2026 für Baden-Württemberg höchstwahrscheinlich ein neues Zeitalter anbrechen.

Was wird von der Ära Kretschmann bleiben, außer dass im Amtssitz des Ministerpräsidenten jetzt statt schwäbischen Wurstsalats raffinierte Kürbisstrudel serviert werden? Worauf kann der Spitzenkandidat Cem Özdemir aufbauen, wenn er – nachdem auch ein Landtagswahlkreis für ihn gefunden wurde – im Oktober offiziell dem Wunsch der Linken und der Realos in seinem Landesverband folgen und seine Kandidatur ankündigen wird? Blickt man zurück ins Jahr 2011, als die Grünen die CDU nach 46 Jahren als Regierungspartei ablösten, dann fällt auf, dass die damals behandelten Probleme verglichen mit den heutigen geradezu niedlich waren.

Manches gelang Kretschmann, anderes nicht

Es gab den Konflikt um den tiefergelegten Stuttgarter Bahnhof. Die Grünen traten zudem mit dem Versprechen an, die Politik bürgernäher zu machen, und wollten damit am liebsten selbst zu einer Volkspartei, später sogar zur Baden-Württemberg-Partei werden. Kretschmann nannte das die „Politik des Gehörtwerdens“. Dahinter stand die Auffassung, es gebe Menschen, die in der repräsentativen Demokratie nicht zu Wort kämen und denen man mit moderneren Formen der Bürgerbeteiligung eine Stimme geben müsse. Dies und die ökologische Transformation des ökonomischen Kraft­zen­trums im Südwesten waren Kretsch­manns Kernanliegen.

Die Grünen richteten gegen erheblichen Widerstand der Bevölkerung im Schwarzwald den ersten Nationalpark ein, sie reformierten das Jagdgesetz, sorgten dafür, dass an der Universität Tübingen ein Cyber Valley entstehen konnte und dass der dortige Campus heute zu den wichtigsten KI-Forschungszentren Deutschlands zählt. Der öffentliche Nahverkehr wurde gestärkt, in die Medizintechnikbranche wurde investiert. Die Transformation der Automobilindustrie begleitete Kretschmann mit einem Strategiedialog, der nicht verhindern konnte, dass seine Leitindustrie durch die E-Mobilität in die Krise rutschte.

Der Ausbau der Windkraft allerdings kam über bald drei Legislaturperioden unter grüner Führung schleppender voran als in anderen Bundesländern. Obwohl die Grünen Volksentscheide erleichterten, organisierten sie die Bürgerbeteiligung eher über Bürgerräte. So kam es trotz vieler Initiativen noch nie zu einer Volksabstimmung. Die Vergleichswerte in den Bildungsstudien wiederum verschlechterten sich zusehends. Mit der Gemeinschaftsschule schufen die Grünen eine neue Schulart – das eigentliche bildungspolitische Thema, nämlich die Verbesserung der Sprachfähigkeiten im Vor- und Grundschulalter, entdeckte der frühere Gymnasiallehrer Kretschmann erst spät.

Bei der Betrachtung dieser Bilanz fällt ins Gewicht, dass der erste grüne Ministerpräsident seit 2015 vor allem Krisenmanager war: Flüchtlingskrise 2015/16, Transformationskrise der Automobilindustrie, Corona-Pandemie, schließlich die zweite Flüchtlingskrise nach dem russischen Überfall auf die Ukraine. „In der Krise gehe ich auf Konsens“ war Kretschmanns Leitmotiv. Mit aller Kraft versuchte er, eine Konfliktkoalition zu vermeiden, auch weil er die Verankerung der CDU im Land sah.

Kretschmann hatte auch mit schwachen Regierungsmitgliedern viel Geduld, mit der CDU sowieso. Nach der Wahl 2016 ließ er seinen Agrarminister im Regen stehen, und am Ende der Corona-Pandemie musste der Amtschef des Gesundheitsministeriums gehen. Doch von Durchregieren hält er nichts. Rationalität, Verlässlichkeit und die Orientierung an Fachleuten und Wissenschaft sind Kretschmanns Orientierungspunkte – der Preis ist ein langsames Regierungstempo.

Stand jetzt hat Özdemir schlechte Aussichten

Sollten die Wähler Cem Özdemir die Chance geben, der zweite grüne Ministerpräsident der Republik zu werden und zudem der erste mit türkischen Wurzeln, dann würde er zwar kein rauchendes Trümmerfeld erben, aber doch ein Mehrfamilienhaus mit Renovierungs- und Innovationsbedarf. Die Aussichten, dass Özdemir die Wahl gewinnt und nicht der CDU-Landesvorsitzende Manuel Hagel, sind derzeit so schlecht, dass bei den Grünen viele es „dem Cem“ hoch anrechnen, dass er sich den Umzug nach Stuttgart überhaupt noch antut.

Die CDU liegt in Umfragen bei 32 Prozent, die Grünen bei zwanzig. Für die anderen Parteien sind die Grünen gerade eine toxische Truppe von Unberührbaren, mit der man nichts zu tun haben will. Aber diese Werte sind nicht im Musterländle gemacht, Kretschmann hat sie dem schlechten Ansehen der Ampelregierung in Berlin zu verdanken. Seit drei Jahren können die Südwest-Grünen auch nicht mehr im Schatten der Merkel-CDU segeln. Kretschmann verhielt sich immer loyal zur früheren Bundeskanzlerin, belohnt wurde das mit freundlichen Worten aus dem Kanzleramt.

Um zwei Dinge kümmerte sich Kretsch­mann wenig. Zum einen um die Entwicklung seiner Partei auf Bundes- und auf Landesebene, denn unter Funktionären hält es Kretschmann nicht lange aus. Deshalb gehörte er dem Parteirat nur kurz an. Auf Bundesparteitagen blieb er der „Waldschrat“ aus Sigmaringen, zu dem ihn Joschka Fischer einst gemacht hatte. Dabei färbte der Stuttgarter Regierungsstil auf andere Realos und ihr Politikverständnis ab: Für Vizekanzler Robert Habeck, den früheren hessischen Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir, die Hamburger Senatorin Katharina Fegebank und natürlich Özdemir ist Kretschmann ein stilbildendes Vorbild. Die bei den Grünen übliche Trennung von Amt und Mandat erschwerte es, die Partei im Ganzen zu verändern. Der Landesverband gewann viele neue Mitglieder, aber die angestrebte Verankerung im ländlichen Raum blieb schwach. Von 1100 Bürgermeistern stellen die Grünen nur zehn, es fehlt in den Kommunen an Volksparteienpersonal.

Kretschmann verspasste den richtigen Moment

Außerdem versäumte Kretschmann, seine Nachfolge zu regeln. Kandidaten gab es, doch den richtigen Zeitpunkt und den Mut, sich gegen die CDU durchzusetzen und einen Nachfolger zur Wahl zu stellen, fanden die Grünen nicht. Am Ende warteten sie so lange ab, bis die CDU im Herbst 2023 klarstellte, dass sie einen Nachfolger in der laufenden Legislaturperiode nicht wählen würde.

Erstaunlich ist, wie viele geeignete Nachfolger anfänglich infrage kamen: Zunächst war da der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, der sich in der Schlichtung des Bahnhofsstreits als Vertreter der Grünen einen Namen gemacht hatte. Auch gelang es Kretschmann und Palmer in der Flüchtlingskrise immer mal wieder, ein Verständnis von Humanität und Ordnung deutlich zu machen, das sich von dem des liberalen CDU-Flügels nicht unterschied. Aber Palmer scheiterte an sich selbst und seiner Partei, bis er sie schließlich verließ.

Den 2018 abgewählten Freiburger Oberbürgermeister Dieter Salomon soll Kretsch­mann ein Jahr vorher zweimal gefragt haben, ob er sein Nachfolger werden wolle: Einmal gab es ein Gespräch in der Villa Reitzenstein, kurze Zeit darauf einen weiteren Termin im Freiburger Colombi-Hotel. Der selbstbewusste Salomon sagte beide Male Nein. Er sei protestantisch, städtisch und wolle nie wieder auf der Oppositionsbank sitzen.

Özdemir muss neu beginnen

So fiel die Wahl am Ende auf den 58 Jahre alten, in Bad Urach geborenen Özdemir. Das Verhältnis zwischen Kretsch­mann und dem heutigen Bundeslandwirtschaftsminister war lange Zeit nicht besonders eng, Özdemir hatte selbst im Realo-Lager nicht nur Fans: Er galt als Solist, man störte sich an seiner intellektuellen Unabhängigkeit.

Wenn Cem Özdemir jetzt aus seiner Berliner Altbauwohnung nach Stuttgart umzieht, muss er wie sein Vorbild Kretsch­mann als Politikertyp, der mit beiden Beinen im Leben steht, so weit wie möglich über dem Biotop seiner Partei schweben. Das Erbe Kretschmanns wird ihm wenig nützen, um den Abstand zur CDU aufzuholen. Helfen dürfte ihm seine Aufsteigerkarriere, seine große politische Erfahrung auf den unterschiedlichsten politischen Ebenen, auch als Bundesminister. Dem mutmaßlichen CDU-Spitzenkandidaten Hagel, heißt es bei den Grünen, fehle es an Bekanntheit, er habe die Charakterproben des harten politischen Alltags mit 36 Jahren noch nicht bestanden.

Personell und inhaltlich muss Özdemir neu beginnen, wenn er den Wählern zeigen will, dass die Grünen mit einer ökologisch grundierten Politik auf den Feldern Bildung, Innovation, Sicherheit und vor allem Wirtschaft die besseren Konzepte haben als die CDU. Einfach wird das nicht. Bei den Themen Migration und Wirtschaft wird der CDU traditionell mehr Kompetenz zugetraut. Aber der Rücktritt von Ricarda Lang und Omid Nouripour und die Neujustierung der Migrationspolitik durch die grünen Realos in den Landesregierungen könnte Özdemir langfristig helfen. Die zum linken Flügel gehörende Lang stammt zwar aus Baden-Württemberg, doch viele Realos fremdelten mir ihr. Sie empfinden den Rücktritt als Befreiung und sind froh, dass sie künftig in der Bundespartei wahrscheinlich von der Ultra-Reala Franziska Brantner vertreten werden.

So oder so: Aus dem Realo-Lager heißt es, anderthalb Jahre seien eine lange Zeit und die Persönlichkeit eines Kandidaten könne schon zehn Prozentpunkte bringen. Dabei wird verschwiegen, dass die derzeitigen zwanzig Prozent der Grünen auf Landesebene ja auch auf dem Kretsch­mann-Bonus beruhen.

Sollten die Grünen in Baden-Württemberg wieder in der Opposition landen, stünden sie nach 15 Jahren Regierungstätigkeit am Scheideweg. Die Partei würde in ein Stadium zurückfallen, das die Kretschmann-Realos für dauerhaft überwunden gehalten hatten. Sie hatten die Rechnung ohne Olaf Scholz und die Ampel gemacht.