Forscher zur EU-Integration: „Deutschlands Unterstützung war kein Altruismus“

                                                                          Geschichte von Susanne Kusicke
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                                                                Hört ihnen jemand zu? Parlamentspräsidentin Roberta Metsola im Europaparlament © dpa

Herr Maurer, wie würden Sie die Entwicklung des Europäischen Parlaments beschreiben?

Das Europäische Parlament ist seit 1979 das einzige direkt gewählte übernationale Parlament, das es überhaupt gibt. Es ist damit auf dem Globus einzigartig. Und schon das, die Direktwahl des EP, war ein erster Erfolg der damals noch delegierten europäischen Abgeordneten, die seit 1958 dafür gekämpft hatten.

 

Wie ging es dann weiter?

Das Parlament hatte von Anfang an zwei Urrechte, nämlich die Möglichkeit, der Europäischen Kommission die Haushaltsentlastung auszusprechen oder zu verweigern, und das Recht, ihr das Misstrauen auszusprechen. Auf dieser Grundlage hat es dann angefangen, mehr zu fordern: Kontrollrechte gegenüber Kommission und Ministerrat, mehr Möglichkeiten der Mitwirkung in der Gesetzgebung und in der Vertragsentwicklung.

Seine Forderungen hat es immer wieder lautstark und mit großen Mehrheiten mit der Drohung verknüpft, der Kommission die nächste Haushaltsentlastung zu verweigern, wenn sie sich nicht auf seine Seite schlägt. Damit war es sehr erfolgreich, vor allem wenn man bedenkt, dass es selbst als Organ nie unmittelbar an den vertragsändernden Regierungskonferenzen beteiligt war.

Wo sehen Sie die größten Erfolge?

Zuletzt vor allem bei internationalen Abkommen und in der Handelspolitik. Da ist es dem Parlament gelungen, sowohl die Kommission als auch den Ministerrat vor, während und nach der Aushandlung internationaler Abkommen fortwährend zu kontrollieren und zur Rechenschaft zu verpflichten.

Wie beurteilen Sie die Stellung des Parlaments heute?

Heute haben wir ein Parlament, das die Europäische Kommission komplett an die Kandare nehmen kann, angefangen bei klassischen Rechten wie dem mündlichen und schriftlichen Fragerecht bis hin zur Organisation von Untersuchungsausschüssen oder eines Misstrauensvotums.

Wie sieht es mit solchen Zwangsmitteln gegenüber dem Europäischen Rat aus?

Gegenüber den Mitgliedstaaten hat das Parlament bis heute eigentlich nichts in der Hand, womit es effektiv drohen kann. Da ist es auf den guten Willen der Staaten angewiesen. Diesen guten Willen gab es aber auch. Deutschland unter Helmut Kohl, die griechische Regierung, Italien oder die Niederlande haben das Parlament immer wieder in einzelnen Fragen stark unterstützt und dafür gesorgt, dass ihm auf einer Regierungskonferenz etwa in Maastricht, im Amsterdamer Vertrag oder zuletzt im Vertrag von Lissabon mehr Rechte zugesprochen wurden.

Sie nannten Deutschland und Helmut Kohl als treibende Kräfte hinter dem Bedeutungszuwachs des Parlaments. Was war die Motivation dabei?

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                                             Andreas Maurer ist Professor für Politikwissenschaft und Europäische Integration an der Universität Innsbruck. © Universität Innsbruck
 

Es war kein deutscher Altruismus, sich immer wieder für ein stärkeres Europäisches Parlament einzusetzen. Sondern ganz rationales Kalkül des größten Staats mit der größten Delegation im Parlament. Kohl, Schmidt, Schröder, ihnen allen war völlig klar, dass es einen Unterschied macht, ob man in diesem Parlament mit über 90 Abgeordneten eine starke Stimme hat und deutsche Interessen vertreten kann, oder ob es nur so eine Art Konsultationsbude ist.

Die griechische Delegation ist nicht annähernd so groß...

In den achtziger und neunziger Jahren war es ein Herzensanliegen Griechenlands, Spaniens und Portugals, der großen Gruppe der Migranten aus diesen Ländern Rechte zu geben, die sie zu Hause hatten, aber nicht als Gastarbeiter in Nordeuropa. Deshalb warben sie für die Einführung einer Unionsbürgerschaft. Damit können EU-Bürger unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem Aufenthaltsort an Kommunal- und Europawahlen teilnehmen, genießen konsularischen Schutz und so weiter. Das Europäische Parlament war da nicht dagegen, sondern fand die Idee fortschrittlich, um die Integration als solche voranzubringen, es war also ein „Match“.

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Theorie und Brüsseler Praxis: Wie EU-Gesetze wirklich entstehen © Bereitgestellt von Frankfurter Allgemeine Zeitung

Und hat das Parlament auch etwas dafür bekommen?

Das Parlament konnte dann sicher sein, dass diese Länder seiner Forderung nach unmittelbarer Beteiligung an der Gesetzgebung über das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nachkommen würden.

Könnte so etwas heute noch gelingen?

Das sind Strategien, die das Parlament bis heute sehr gut auf die Reihe kriegt. Aber man braucht dafür starke Mehrheiten, weit über die Koalition von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen hinaus. Da müssen auch die Grünen dabei sein, viele Kommunisten, eine ganze Reihe von Konservativen. Wenn Sie diese großen Mehrheiten haben, dann lassen sich die Mitgliedstaaten relativ schnell überzeugen.

Warum hat sich in Deutschland über Jahrzehnte das Klischee gehalten, nach „Europa“ würden ausgediente oder unbequeme Politiker abgeschoben?

Eine Mitwirkung im Europäischen Parlament ist für einen deutschen Karrierepolitiker nicht karrierebildend oder karrierefördernd, das ist das große Problem. Wenn Sie in Deutschland irgendwann ministrabel werden wollen, spielt die hohe Schule des Europäischen Parlaments keine Rolle. Das ist ein Riesenunterschied zum Beispiel zu Dänemark. Wenn Sie dort etwas werden wollen, dann erwartet man von Ihnen, dass sie auf jeden Fall nicht nur Bürgermeisterin von Kopenhagen oder so etwas gewesen sind, sondern auch mal im Europäischen Parlament. In Frankreich komischerweise auch, bis heute.

Warum ist das in Deutschland nicht so?

Das ist eine andere Geschichte. Deutschland ist ein Föderalstaat, der schon komplex genug ist, und die Karrierewege deutscher Politiker gehen nach wie vor hauptsächlich über die Bundesländer. Es gibt Ausnahmen, siehe Frau Merkel, aber sie bestätigt diese Regel eher. Ich kenne natürlich auch diesen Spruch: Hast du einen Opa, schick’ ihn nach Europa, aber es gibt kein anderes Parlament, in das auch die Deutschen so viele junge Leute entsenden. Der Kampf um Mandate ist dort nicht allzu groß. Aber die Personen wachsen im Amt, das darf man nicht vergessen. Das nachzuvollziehen, fällt den Deutschen schwer, glaube ich.

Für wie wichtig halten Sie ein eigenes Initiativrecht des Parlaments, wie es mehrere deutsche Parteien befürworten?

Das Parlament hat ja ein sehr wirkungsvolles informelles Initiativrecht. Es gibt den Artikel 225 (im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Anm. d. Red.), wonach es die Kommission mit der Mehrheit seiner Mitglieder auffordern kann, legislativ tätig zu werden. Das Parlament macht davon in einer Legislatur zwischen zehn und zwanzig Mal Gebrauch. Dieser Aufforderung wird dann ein detaillierter Vorschlagsentwurf beigefügt, wie die neue Regelung aussehen könnte.

Die Lieferketten-Richtlinie geht beispielsweise auf eine solche Parlamentsinitiative zurück. Das Parlament ist in etwa einem Drittel dieser indirekten Initiativen zu 100 Prozent erfolgreich, die Kommission folgt also eins zu eins seinem Vorschlag. Ungefähr zu etwas mehr als einem Drittel übernimmt die Kommission die Idee, schreibt sie aber um, und in etwas weniger als einem Drittel lehnt die Kommission ab, etwa weil der Vorschlag zu breit angelegt war. Insofern ist das Ansinnen zwar nachvollziehbar, weil wir ein direktes Initiativrecht aus dem Bundestag kennen, aber für das Europäische Parlament ist es nicht wirklich wichtig.