Türkei verabschiedet sich immer weiter von Demokratie und Menschenrechten

Artikel von Erkan Pehlivan . FR

 

Bilanz des Putschversuchs

Türkei verabschiedet sich immer weiter von Demokratie und Menschenrechten

Am Samstag jährt sich der Putschversuch in der Türkei zum siebten Mal. Präsident Erdogan hat seither das Land zu einer Autokratie verwandelt.

Ankara – Der 15. Juli 2016 veränderte die Türkei gravierend. Zur besten Sendezeit sah man, wie vorwiegend Militärkadetten in Istanbul nur eine Seite der Bosporus Brücke mit einigen Panzern besetzten. Zur gleichen Zeit flogen Kampfflugzeuge im Tiefflug über der Millionenmetropole. Auch in Ankara waren Kampfflugzeuge im Himmel zu sehen. In den Nachrichten tauchte anschließend die Meldung auf, Soldaten wollten die Regierung stürzen.

Präsident Recep Tayyip Erdogan nannte die Aktion später „ein Geschenk Gottes“. Bis heute sind die Hintergründe des vermeintlich Putschversuchs nicht geklärt. Auch an der Version der türkischen Regierung, dahinter stecke die sogenannte Gülen-Bewegung, die Erdogan seither als Terrororganisation eingestuft hat und als „Fetö“ (Fethullah´sche Terrororganisation) bezeichnet, scheint es vor allem im Westen Zweifel zu geben. Fest steht, die Bilanz der Putschnacht wiegt sehr schwer. Seither hat das Land demokratisch, wirtschaftlich und vor allem rechtsstaatlich stark eingebüßt.

Erdogan entlässt über 125.000 Beamtinnen und Beamte per Dekret

Nach Angaben der Ausnahmezustandskommission wurden nach dem Putschversuch mindestens 125.678 Beamte entlassen. Viele von ihnen verhaftet und später zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, vor allem wegen Terrordelikte. Erdogan rief nach dem Putschversuch den Ausnahmezustand aus und konnte solche Maßnahmen per Dekrete durchführen.

Zu den Entlassenen gehören rund ein Viertel (4.386) aller Richter und Staatsanwälte. Nur 166 von ihnen durften später wieder zurück in den Staatsdienst. 3.758 von ihnen wurden entweder in Polizeigewahrsam genommen oder verhaftet. In mehreren Fällen kam es zu psychischen und physischen Folterfällen, erzählte der im europäischen Exil lebende ehemalige Staatsanwalt

Hasan Dursun fr.de von IPPEN.MEDIA. Dursun wurden ebenfalls verhaftet und musste rund 30 Monate ins Gefängnis.

Präsident Erdogan hat seit dem Putschversuch 2016 die Türkei zu einer Autokratie verwandelt.

Präsident Erdogan hat seit dem Putschversuch 2016 die Türkei zu einer Autokratie verwandelt. © dpa

 

Der ehemalige Staatsanwalt zeigt sich vor allem enttäuscht über die türkische Opposition. „Auch die Opposition hat diese Entlassungen der Richter und Staatsanwälte unterstützt. Sie haben damals keine Haltung dagegen eingenommen und tun es heute auch nicht“, so Dursun. Seither seien rund 15.000 neue Richter und Staatsanwälte eingestellt worden, die durch die Regierung kontrollierbar seien, kritisierte der Jurist.

Verband Europäischer Verwaltungsrichter kritisiert die Türkei

Die Association of European Administrative Judges (AEAJ (Verband Europäischer Verwaltungsrichter) zeigt sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen anlässlich des morgigen Jahrestages des Putschversuchs solidarisch.

„Wir sehen es als unsere Pflicht an, uns für unsere türkischen Kollegen einzusetzen und darauf zu drängen, dass zu Unrecht entlassene Kollegen wieder eingestellt werden, dass sie ihr beschlagnahmtes Vermögen zurückerhalten und dass die Inhaftierung und unrechtmäßige Verfolgung von Richtern und Staatsanwälten eingestellt wird“. Die europäischen Verwaltungsrichterinnen – und Richter fordern von der türkischen Regierung zudem die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit.

Die Türkei ist nach dem Putsch zu einem Ort der Folter geworden

Die Folgen der Massenverhaftungen und Entlassungen sieht man im Rechtsstaatlichkeitsindex der Nichtregierungsorganisation „World Justice Project“. Lag die Türkei 2015 auf Platz 80, so ist das Land heute auf Platz 116 unter 140 gerutscht. Wie schlecht es um die Menschenrechtssituation bestellt ist, berichten türkische und auch internationale Menschenrechtsorganisationen regelmäßig.

 „Das ganze Land ist zu einem Ort der Folter geworden”, lautet das Urteil der Experten der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV, des Menschenrechtsvereins IHD und des Türkische Ärztebundes TTB in ihrem gemeinsamen Bericht „Wir verteidigen die Menschenrechte und sagen Nein zu Folter“.

Ähnlich hatte sich auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Oktober 2016 in ihrem Bericht geäußert: „Die türkische Polizei hat Menschen in Haft gefoltert und auf andere Art misshandelt, nachdem die in Folge des gescheiterten Putschversuches im Juli 2016 erlassenen Notverordnungen wichtige Schutzvorschriften außer Kraft gesetzt haben.“

Kurdische Abgeordnete weiterhin im Gefängnis

Auch gegen die Opposition ging die türkische Regierung besonders gnadenlos vor. Betroffen waren vor allem Mitglieder der pro-kurdischen HDP, bestätigte der kurdisch-alevitische Journalist und Schriftsteller Aziz Tunc im Gespräch mit unserer Zeitung. „Am 5. November 2016 wurden 12 Abgeordnete festgenommen, acht von ihnen sind weiterhin hinter Gittern“. Unter den kurdischen Politikerinnen und Politikern ist auch weiterhin der ehemalige Co-Vorsitzende der pro-kurdischen Partei, Selahattin Demirtas. Auch auf lokaler Ebene ging die AKP-Regierung gegen kurdische Politiker vor. „Die HDP gewann bei den Kommunalwahlen 2019 insgesamt 65 Bürgermeisterämter. Unmittelbar nach der Wahl wurden in 59 dieser Gemeinden Zwangsverwalter statt der Bürgermeister eingesetzt“, so Tunc. Über 10.000 HDP-Mitglieder seien weiterhin hinter Gittern, erzählte Tunc.

Druck auf Meinungs- und Pressefreiheit hält weiter an

Ähnlich steht auch die Meinungs- und Pressefreiheit weiterhin unter Druck. In den letzten 10 Jahren ließ die Erdogan-Regierung über 170 Medien verbieten, darunter 62 Zeitungen und 29 TV-Stationen. Tausende Journalistinnen und Journalisten wurden entlassen, Hunderte unter ihnen verhaftet. Noch immer sind 60 Medienschaffen in türkischen Gefängnissen eingesperrt. Rund 300 Medienschaffende musste ins Ausland fliehen, darunter auch Can Dündar und Cevheri Güven, die beide in ihrem deutschen Exil unter Polizeischutz leben müssen.

Heute sind die Medien zum größten Teil unter Kontrolle von Erdogan oder mit ihm verbandelten Unternehmern. „Im TV wird die Opposition sanktioniert. Im Vorfeld der Wahlen im Mai hat allen voran der Staatssender TRT der Regierung Stunden an Sendezeit gewidmet, während die Opposition nur Minuten bekam“, erzählt der Exiljournalist Engin Sag. Zuletzt wurde der Chefredakteur v

Druck auf Meinungs- und Pressefreiheit hält weiter an

Ähnlich steht auch die Meinungs- und Pressefreiheit weiterhin unter Druck. In den letzten 10 Jahren ließ die Erdogan-Regierung über 170 Medien verbieten, darunter 62 Zeitungen und 29 TV-Stationen. Tausende Journalistinnen und Journalisten wurden entlassen, Hunderte unter ihnen verhaftet. Noch immer sind 60 Medienschaffen in türkischen Gefängnissen eingesperrt. Rund 300 Medienschaffende musste ins Ausland fliehen, darunter auch Can Dündar und Cevheri Güven, die beide in ihrem deutschen Exil unter Polizeischutz leben müssen.

Heute sind die Medien zum größten Teil unter Kontrolle von Erdogan oder mit ihm verbandelten Unternehmern. „Im TV wird die Opposition sanktioniert. Im Vorfeld der Wahlen im Mai hat allen voran der Staatssender TRT der Regierung Stunden an Sendezeit gewidmet, während die Opposition nur Minuten bekam“, erzählt der Exiljournalist Engin Sag. Zuletzt wurde der Chefredakteur von Tele 1, Merdan Yanardag, direkt in den Redaktionsräumen verhaftet. Dem Journalisten drohen über 10 Jahre Gefängnis.

Und auch die sozialen Medien werden durch ein sogenanntes Desinformationsgesetz kontrolliert. „Zuletzt wurde ein 14-Jähriger festgenommen, weil er Erdogan beleidigt haben soll“, so Sag. Betreiber sozialer Medien wie Twitter stehen unter ständigem Druck. Wenn diese nicht Konten von Kritikern sperren, droht ihnen selbst die Sperrung in der Türkei.

Keine Aufarbeitung des Putschversuchs

Bislang hat es keine unabhängige Aufarbeitung des Putschversuchs, etwa durch internationale Experten, gegeben. Stattdessen wurden Hunderttausende wegen Terrordelikte verhaftet. In der Putschnacht wurde nur eine Fahrbahnseite der Bosporusbrücke besetzt und diese von Kadetten. In ihren Gerichtsverhandlungen sagen sie aus, dass sie zu einer Übung gebracht wurden. Auf der Brücke wurden damals Dutzende Zivilisten getötet.

 

Obwohl die Ballistikberichte zeigen, dass diese von Kugeln aus Scharfschützengewehren erschossen wurden, wurden die Tötungen dennoch den Kadetten zur Last gelegt, die allerdings keine Scharfschützengewehre bei sich geführt hatten. Die türkischen Gerichte haben diese Berichte offensichtlich bei ihrer Urteilsgebung ignoriert.

Erdogan entlässt die Hälfte aller Generäle

Die Folgen des Umsturzversuchs sind vor allem für das türkische Militär katastrophal. Erdogan entließ 150 Generale und damit rund die Hälfte von ihnen. Insgesamt wurden 24.395 Soldaten entlassen. Allerdings wurden nur rund 3000wegen Beteiligung am Umsturzversuch verurteilt. Die entlassenen Offiziere gelten vor allem als pro-westliche Offiziere. Viele von ihnen wurden ebenfalls verhaftet und wie andere Soldaten auch gefoltert. Inzwischen sind diese durch Offiziere ersetzt worden, die dem Vorsitzenden der faschistischen Vatan Partisi, Dogu Perincek, nahestehen. Perincek ist anti-westlich und fordert eine nähere Anbindung an Russland und den Iran. (erpe)

Obwohl die Ballistikberichte zeigen, dass diese von Kugeln aus Scharfschützengewehren erschossen wurden, wurden die Tötungen dennoch den Kadetten zur Last gelegt, die allerdings keine Scharfschützengewehre bei sich geführt hatten. Die türkischen Gerichte haben diese Berichte offensichtlich bei ihrer Urteilsgebung ignoriert.