Türken in Deutschland: Wie man Erdogan-Anhänger besser integrieren kann
Artikel von Cem Özdemir • FAZ
Man stelle sich vor, Markus Lanz, Caren Miosga oder Dunja Hayali würden einen Regierungsskandal aufdecken – und müssten daraufhin das Land verlassen. So ergeht es Can Dündar, einem in der Türkei bekannten Journalisten. Er kann nicht mehr zurück in seine Heimat und lebt seit einigen Jahren im Berliner Exil. Warum? Er hat es gewagt, seinen Job zu machen.
Can Dündar hat 2015 über illegale Waffenexporte an Islamisten in Syrien recherchiert und geschrieben. Im Dezember 2020 wurde er in Abwesenheit zu fast drei Jahrzehnten Haft verurteilt – wegen angeblicher Terrorunterstützung und Spionage. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) bezeichnete das Urteil als „Akt der Barbarei“. In freien Ländern gäbe es „dafür Journalistenpreise, in der Türkei hingegen Kerker“.
Zwei Drittel wählten einen Despoten
Wie viele andere setzte auch Can Dündar große Hoffnungen in die jüngsten Wahlen in der Türkei. Sie wurden herbe enttäuscht. Erdogan erhielt von denjenigen, die in Deutschland als türkische Staatsbürger an der Wahl teilnahmen, zwei Drittel der Stimmen. Sie wählten einen Despoten, während sie hierzulande alle Vorzüge der liberalen Demokratie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Beides ist ihr Recht. Doch nehmen sie damit bewusst in Kauf, dass in den nächsten Monaten und Jahren noch viele Menschen wie Can Dündar zu uns kommen, weil sie in der Türkei schikaniert, bedroht oder unter fadenscheinigen Gründen angeklagt werden. Denn von Erdogan kam auch nach dieser Wahl kein versöhnendes Wort, im Gegenteil. Das lässt schlimmes erahnen.
In Deutschland ist das Problembewusstsein für diese Gemengelage eher bescheiden. Tatsächlich ist die Situation nicht einfach. Denn zum einen tritt die türkische Regierung die Demokratie und Freiheit vieler Menschen mit Füßen. Zum anderen ist das Land Teil der Nato und Wirtschaftspartner. Doch das kann nicht bedeuten, beide Augen vor dem zu verschließen, was in Deutschland vor sich geht – es wäre schon mal ein Anfang, zumindest ein Auge zu öffnen.
Das wäre bitter nötig, um die in Deutschland lebenden Gegner des Erdogan-Regimes zu schützen, die sich für eine demokratische Türkei einsetzen. Der lange Arm Erdogans darf sie hier nicht erreichen. Die Wahrscheinlichkeit, in deutschen Großstädten auf Anhänger – auch fanatische Anhänger – Erdogans zu treffen, von ihnen beleidigt, bedroht und angegriffen zu werden, ist keineswegs gering. Schon wer sich in Berlin in ein „falsches“ Taxi setzt, kann sein blaues Wunder erleben. Soll man in Deutschland nun tatsächlich Taxis meiden – nur, weil man für Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit eintritt? Immer mehr Bürger türkischer Herkunft fragen sich, ob sie sich hier in Deutschland, auch zum Schutz ihrer Familie, selbst zensieren müssen.
Tatsächlich schreitet die gesellschaftliche Spaltung nicht nur in der Türkei voran, sondern auch hier in unserem Land. Türkeistämmige Deutsche werden attackiert und bedroht, sobald sie sich mit einer kritischen Meinung in den Strukturen von der Türkei verbundenen Verbänden oder Vereinen oder in mehrheitlich türkisch geprägten Sozialräumen bewegen. Oder sie laufen Gefahr, über eine berüchtigte App der Zentralbehörde der türkischen Polizei als vermeintliche Terrorunterstützer denunziert und bei der nächsten Einreise in die Türkei verhaftet zu werden.
Es gibt de facto Parallelgesellschaften, die unsere Demokratie und unsere Freiheiten herausfordern, deren Protagonisten andere bedrohen, beleidigen oder denunzieren. Es würde hier schon helfen, wenn Staat und Behörden sich dessen bewusst sind und genau hinschauen. Der Eindruck, dass die Sicherheit derer, die sich in Deutschland fest verwurzelt fühlen und sich zugleich für die Demokratie in der Türkei einsetzen, im Vergleich zur Sicherheit der antidemokratischen Scharfmacher nur nachrangig ist, wäre jedenfalls fatal für das Vertrauen in unseren Staat.
Man öffnet die Büchse der Pandora
Es geht hier nicht um Sozialpädagogik. Es geht nicht darum, fanatische Anhänger nationalistischer und faschistischer Ideen von Demokratie und Humanismus zu überzeugen. Wo es gelingt – großartig. Doch sollte man nicht naiv sein und sich darauf verlassen. Unsere Verantwortung gilt zuallererst denen, die bedroht werden. Es muss jederzeit klar werden, dass in Deutschland ausschließlich das deutsche Grundgesetz gilt – und wir auch keine doppelten Sicherheitsstandards zwischen Deutschen und Migranten zulassen. Wer hierzulande mit türkischen Nationalisten und Rassisten zusammenarbeitet, sich nicht gegen sie durchsetzt oder zurücksteckt – wie die Stadt Köln, die aus Angst vor Ultranationalisten ein Mahnmal zum Völkermord an den Armeniern entfernen lassen will –, öffnet die Büchse der Pandora. Denn die Feinde der offenen Gesellschaft verstehen solches Handeln als Aufforderung weiterzumachen.
Man kann das Richtige übrigens auch falsch tun. In Hessen wurden zwei Journalisten der türkischen Regimepresse, die die Privatanschrift eines Whistleblowers veröffentlicht hatten, zwischen den zwei Wahlgängen verhaftet. Die Vorwürfe gegen die Journalisten sind ein Jahr alt. Unsere Justiz ist unabhängig; und dennoch stellt sich die Frage: Warum geben wir den Erdogan ergebenen Propagandanachrichten diese Steilvorlage – um ihn im Wahlkampf tatsächlich als Kämpfer der Meinungsfreiheit zu inszenieren und er uns Zensur vorzuwerfen kann?
Auch dürfen wir das System muslimischer Verbände, die mehr politische Interessenvertreter sind als Religionsgemeinschaften, nicht weiter mit naiver Zusammenarbeit unterstützen und legitimieren. Dialog? Ja, sicher. Kooperation? Nein, nicht unter diesen Umständen. Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Ditib- und Milli-Görüş-Moscheen in Wahlkampfzentralen der türkischen Regierung verwandelt wurden, wo die Opposition keinen Platz hatte. Ebenso wenig, dass die Verbände ihre Eigenständigkeit immer bloß behaupten und im Zweifel die Interessen aus Ankara umsetzen. Sind sich alle Entscheidungsträger in Deutschland darüber im Klaren, dass die nächste Generation der Imame aus der Türkei noch nationalistischer und fundamentalistischer sein wird als die heutige? Wissen alle, die für Staatsverträge mit Ditib, Milli Görüş und anderen gegenüber offen sind oder andere Abkommen treffen wollen, dass sie Erdogan damit direkt in deutsche Schulen holen? Ich habe berechtigte Zweifel.
Ringen um Kopf und Herz
Nicht naiv zu sein, bedeutet auch, um Kopf und Herzen der Türkeistämmigen zu ringen – genauso übrigens, wie es bei Russischstämmigen notwendig ist, wenn wir sie nicht an Putin verlieren wollen. Das bedeutet, dass wir der Diasporapolitik Ankaras mehr entgegensetzen müssen. Allem voran eine aktive Religionspolitik mit klugen Finanzierungs- und Ausbildungskonzepten etwa, die mit freiheitlich-demokratisch überzeugten Muslimen das muslimische Leben in Deutschland gestaltet. Über die YTB, das Amt für Auslandstürken, reisen jedes Jahr Tausende Jugendliche in die Türkei, um ihnen „türkische Geschichte“ und „Heimatliebe“ in der AKP-Version einzutrichtern.
Wäre es nicht besser, wir würden stattdessen Reisen zu bedeutenden Gedenkstätten der deutschen und der europäischen Geschichte anbieten – von der Paulskirche über das Haus der Geschichte in Bonn bis zu Weimar und Buchenwald, damit jeder versteht, woher dieses Land kommt und was es sein möchte? Nicht zuletzt brauchen wir Gegenangebote in den sozialen und in den traditionellen Medien. Wenn andere offen Propaganda betreiben, dann kann unsere naive Antwort doch nicht lauten, die Hände in den Schoß zu legen oder darauf zu hoffen, dass sie täglich in die Bibliothek gehen, um sich mit Qualitätszeitungen einzudecken. In vielen Haushalten laufen vor allem Fernsehsender, die Erdogan nahestehen. Insbesondere junge Türkeistämmige werden bei sozialen Medien wie Twitter und Instagram durch Influencer aus dem Milieu der AKP und der faschistischen Grauen Wölfe ideologisiert. In Deutschland leben neben Exilpolitikern und Exilwissenschaftlern auch Exiljournalisten aus der Türkei.
Warum nutzen wir sie nicht, um der aufgeheizten Propaganda gegen alle Werte unseres Landes etwas entgegenzusetzen? Ein Deutsch-Türkisches (oder auch Deutsch-Russisches) Arte, das neben Nachrichten auch niedrigschwellige Unterhaltungsangebote produzieren könnte, ist nach wie vor eine Idee, die es Wert ist, in die Tat umgesetzt zu werden – übrigens eine Idee, die theoretisch immer recht viel Zustimmung erfährt. Passiert ist dennoch nichts, sicher auch, weil es etwas kosten würde. Jetzt zahlen wir eine Rechnung, die nicht billiger ist.
Im Umgang mit radikalisierten Anhängern von AKP und MHP in Deutschland herrscht entweder Ratlosigkeit oder man will sich die Realität schönreden. Die Angriffe auf unsere Demokratie, auf unseren Zusammenhalt, auf unsere bürgerlichen Freiheiten werden nicht geringer werden. Wir dürfen nicht naiv sein.