Jeder achte Ausländer hat keinen Schulabschluss
Wie gerecht ist die „Bildungsrepublik Deutschland“? Diese Frage steht im Mittelpunkt des 430-seitigen Reports „Chancenspiegel 2017“. Die Antwort: Es geht insgesamt aufwärts, aber im deutschen Schulsystem ist noch Luft nach oben. Vor allem bei „Risikoschülern“.
Von Werner Herpell
Der „Chancenspiegel 2017“ ist ein gemeinsames Schulsystem-Monitoring der Bertelsmann Stiftung, der Technischen Universität Dortmund und der Universität Jena, das seit 2012 regelmäßig das deutsche Schulsystem auf Bund- und Länderebene untersucht.
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Berlin. Mangelnde Chancengerechtigkeit für junge Ausländer ist nach einer neuen Bildungsstudie eines der Hauptprobleme im deutschen Schulsystem. Für Jugendliche mit ausländischem Pass sei inzwischen das Risiko eines Abbruchs - ohne zumindest den Hauptschulabschluss zu erreichen - mehr als doppelt so hoch wie für ihre deutschen Mitschüler. Zu diesem Ergebnis kommt der am Mittwoch in Berlin vorgestellte „Chancenspiegel 2017“ der Bertelsmann-Stiftung, eine umfangreiche Analyse schulstatistischer Daten von 2002 bis 2014.
Während der Anteil aller Schüler ohne Abschluss seit 2011 von 6,2 auf 5,8 Prozent (2014) sank, stieg die Quote bei ausländischen Schülern im gleichen Zeitraum von 12,1 auf 12,9 Prozent an - betroffen ist in dieser Gruppe also etwa jeder Achte. Vergleicht man die jetzige Situation mit der Lage vor 15 Jahren, zeigt sich immerhin eine Besserung: Der Anteil aller Schulabgänger ohne Abschluss lag 2002 bei 9,2 Prozent, bei jungen Ausländer waren es sogar 16,7 Prozent.
Auch die im vorigen Dezember präsentierte neueste PISA-Studie hatte festgestellt, dass ein Zusammenhang von Herkunft und Bildungschancen in Deutschland weiterhin vorhanden sei - die Kluft habe sich jedoch verkleinert. Nach wie vor gebe es bundesweit zu viele Schüler mit sehr schwachen Leistungen - also potenzielle Schulabbrecher ohne Abschluss mit entsprechend geringen Job-Chancen. Der Vergleichstest TIMSS wies kürzlich nach, dass fast jeder vierte Zehntklässler in Deutschland sowohl in Mathematik als auch in den Naturwissenschaften kaum Grundkompetenzen hat, also schon früh zum „Risikoschüler“ wird.
Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, verlangte einen gemeinsamen Kraftakt von Bund, Ländern und Gemeinden zur besonderen Förderung solcher Problemschüler. Auf allen Ebenen müsse die Bildungspolitik dafür sorgen, dass die jährliche Zahl von knapp 50 000 Jugendlichen ohne Schulabschluss deutlich sinke, sagte der Chef des katholischen Sozialverbandes der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Wir können unter dem Aspekt der Chancengerechtigkeit und der demografischen Entwicklung unmöglich akzeptieren, dass wir ganze Gruppen von jungen Menschen einfach abhängen.“
Insgesamt ist das deutsche Bildungswesen seit dem „PISA-Schock“ 2001 wegen miserabler Ergebnisse im internationalen Vergleich laut „Chancenspiegel“ aber moderner, leistungsfähiger und auch gerechter geworden. Viele Bundesländer hätten ihre Schulsysteme durchlässiger gemacht und führten mehr junge Menschen zum Abitur - diese Quote stieg seit 2002 von gut 38 auf über 52 Prozent.
Zudem seien Sonderschüler mittlerweile besser integriert als im vergangenen Jahrzehnt, immer mehr besuchten fürs gemeinsame Lernen (Inklusion) eine reguläre Schule. Auch der Ausbau der von Bildungsforschern dringend empfohlenen Ganztagsschule ging voran: Während vor 15 Jahren nur eines von zehn Kindern ganztags zur Schule ging, sind es derzeit etwa vier von zehn, heißt es in der Studie.
„Bei zunehmender Vielfalt in den Klassenzimmern gibt es in den Bildungssystemen aller Bundesländer Verbesserungen“, lobte Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stiftung, die den „Chancenspiegel“ zum dritten Mal seit 2012 zusammen mit der Technischen Universität Dortmund und der Uni Jena herausbringt.
Allerdings dürfe dieser Trend „hinsichtlich der Chancengerechtigkeit nicht darüber hinwegtäuschen, dass es große Unterschiede zwischen den Ländern gibt und diese seit 2002 noch gewachsen sind“, betonte Bildungsforscher Prof. Wilfried Bos. So schwankt der Anteil der Ganztagsschüler zwischen nur 15 Prozent in Bayern, 44 Prozent im anderen großen Flächenland Nordrhein-Westfalen, fast 80 Prozent in Sachsen und über 88 Prozent in Hamburg.
Einen weiteres Problem benannte Prof. Nils Berkemeyer aus Jena: „Nicht hinzunehmen ist, dass beim Kompetenzerwerb in der neunten Klasse ein Unterschied von mehr als drei Lernjahren zwischen Sachsen und Bremen besteht.“ Das öffentliche Schulsystem müsse trotz des Bildungsföderalismus für vergleichbare Chancen sorgen und allen ein Mindestmaß an Fähigkeiten vermitteln - eine Frage der Gerechtigkeit. (dpa)