Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

Brief aus Istanbul: Das ist die Türkei

 

Artikel von Bülent Mumay •

 

 

15. Dezember: Vor dem Rathaus von Istanbul haben sich Tausende Menschen versammelt, um den Bürgermeister Ekrem Imamoglu zu unterstützen, der unter Anklage gestellt worden ist, was es ihm unmöglich macht, bei der Wahl im Juni anzutreten.

 15 Dezember: Vor dem Rathaus von Istanbul haben sich Tausende Menschen versammelt, um den Bürgermeister Ekrem Imamoglu zu unterstützen, der unter Anklage gestellt worden ist, was es ihm unmöglich macht, bei der Wahl im Juni anzutreten. © dpa

Neujahr ist für jeden eine Wende. Ein Kilometerstein, mit dem große und kleine Absichten und Erwartungen verbunden sind. Das Jahr 2023 aber bedeutet für uns in der Türkei weit mehr. Die Wahlen, die im Jahr des 100. Jubiläums der Repu­blikgründung anstehen, werden ein Wendepunkt sein. Entweder beenden die Wähler Erdoğans zwanzigjährige Herrschaft und, nach einer vermutlich etwas chaotischen Normalisierungsphase, öffnet sich das Tor zur Demokratie. Oder Erdoğan bekommt vom Volk erneut die Zustimmung für sein autokratisches System und setzt die Türkei auf ein Gleis, von dem eine Umkehr kaum möglich sein wird

Die historische Wahl steht normalerweise im Juni 2023 an. Doch um ein verfassungsrechtliches Hindernis zu umgehen, bereitet Erdoğan sich darauf vor, die Wahl um einen Monat vorzuziehen. Laut Verfassung kann ein Staatspräsident nur zweimal in Folge gewählt werden. Da Erdoğan seine zweite Amtszeit vollendet, kann er also nicht noch mal kandidieren. Um die Diskussion über diesen Umstand zu beseitigen, wird er das Parlament zu vorgezogenen Wahlen drängen und damit das Verbot der Bewerbung für eine dritte Amtszeit aushebeln

Er kann nicht dreimal kandidieren, doch er tut es

Wie in einem vorangegangenen Brief bereits erwähnt, erklärte Erdoğan vor Kurzem auf einer Kundgebung, er bitte die Bürger zum letzten Mal um ihre Unterstützung. Doch fünf weitere Jahre scheinen nicht zu genügen, denn er korrigierte seine Aussage wie folgt: „Ein drittes Mal kann ich nicht kandidieren. Aber das bedeutet nicht, dass Tayyip Erdoğan sich aus der Politik zurückzieht

Es ist nicht erstaunlich, dass der 68 Jahre alte Erdoğan sich, falls er die Wahlen gewinnt, auch mit 73 nicht aus der Politik verabschieden will. Aus Erfahrung wissen wir, dass er alles unternimmt, um seinen Sessel im Präsidentenpalast zu behalten. Er wird sich vor allem an die Macht klammern, weil ihm aufgrund der Wirtschaftskrise, in die er das Land gestürzt hat, eine der für ihn schwersten Wahlen bevorsteht.

Die Lage stellt sich für das Palastregime nicht besonders rosig dar. Das oppositionelle Bündnis hat sich auf die Rückkehr zum parlamentarischen System verständigt und ist in der Lage, die Wahl zu gewinnen. Das unter Führung der größten Oppositionspartei CHP gebildete Sechserbündnis setzt große Hoffnungen auf die am selben Tag stattfindenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Erdoğan sieht die Gefahr und versucht die Situation mit populistischen Interventionen in der Wirtschaft und rechtlichen in der Politik in ihr Gegenteil zu verkehren.

Beginnen wir bei der Wirtschaft: Seit dem Übergang zum Präsidialsystem, das sich kaum von einem Sultanat unterscheidet, durchlebt die türkische Wirtschaft schmerzhafte Zeiten. Für Investoren ist die Türkei kein Anziehungspunkt mehr. Die Einkommenskluft wächst, die Hälfte der Bevölkerung muss mit dem Mindestlohn auskommen, die Inflation liegt nach offiziellen Angaben bei rund 85 Prozent. Da ist es nur natürlich, dass die Stimmen für die Regierung schwinden. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die besonders die unteren und mittleren Schichten, Erdoğans Stammwähler, spüren, schlagen sich in nahezu allen Umfragen nieder.

Drohungen gegen Griechenland machen niemanden satt

Bis vor ein paar Jahren gelang es Erdoğan, die wahren Probleme wie die Teuerung mit nationalistischen oder islamistischen Maßnahmen zu kaschieren. Doch die Verschärfung der Krise und der Armut schwächt solche Effekte ab. Seine gegen Griechenland gerichteten Drohungen machen niemanden satt. Ebenso wenig, wie die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ihm die davonlaufenden Wähler zurückbringt.

So unternimmt Erdoğan beim Einlauf auf die Zielgerade Schritte, die sich auf das Portemonnaie der Wähler auswirken. Zunächst hat er den Mindestlohn um 54,5 Prozent angehoben. Bald soll zudem dererste „TOGG“ auf der Straße sein, ein von dem Joint Venture aus fünf vom Palast zusammengeführten Unternehmen produziertes „einheimisches und nationales“ Elektroauto. Und die Nutzung des, wie im vergangenen Jahr vollmundig behauptet, im Schwarzen Meer gefundenen Erdgases steht angeblich auch bevor.

Die große Mehrheit der Erdoğan-Wähler wird kaum in das Elektroauto steigen, das wohl mindestens 50.000 Euro kosten wird. Und das Erdgas aus dem Schwarzen Meer wird die Rechnungen nicht senken. Der Propaganda-Effekt dürfte begrenzt bleiben. Ähnlich sieht es beim Mindestlohn aus. Den Statistiken der Gewerkschaften zufolge liegt der jetzt auf 430 Euro angehobene Mindestlohn nur knapp oberhalb der Armutsgrenze. Mit 430 Euro kommt man in einem Land mit einer Inflation von 85 Prozent, wobei die Preise in den von Erdogan empfohlenen staatlichen Discountern sogar um 270 Prozent gestiegen sind, nicht aus. Die Rede ist von einem Land, in dem die Menschen sich um fünf Uhr morgens in die Schlange stellen, um günstig Fleisch zu kaufen, und zwar in der Hauptstadt Ankara.

Jetzt nimmt er wieder die Kurdenpartei ins Visier

Zweifellos wird Erdoğan weitere populistische Maßnahmen ergreifen, je näher die Wahlen rücken. Dafür stellt er bereits ein Budget auf. Für die Umsetzung seiner Wahlökonomie stürzt er das Land in Schulden. Bei der Debatte über den Haushalt für 2023 im Parlament wurde eine Neuverschuldung von 200 Milliarden Lira (umgerechnet etwa 10,1 Milliarden Euro) genehmigt. Das staatliche Gasunternehmen hat begonnen, die Zahlungen an Russland auf die Zeit nach den Wahlen zu verschieben. Doch Erdoğan weiß selbst, dass der Effekt all dessen nicht mehr als ein Strohfeuer sein kann.

Statt nach dem eigenen Sieg zu streben, unternimmt er deshalb nun Anstrengungen, um seinen Widersachern eine Niederlage beizubringen. Auf juristischem Weg versucht er die Opposition zu lähmen. Vor gut zwei Wochen ließ er gegen Ekrem Imamoglu, einen der aussichtsreichsten Gegenkandidaten, ein Politikverbot verhängen. Jetzt bemüht er sich, die Kurden-Partei HDP, die eine Schlüsselrolle spielt, auszuschalten. Denn selbst in den für Erdogan optimistischsten Umfragen liegt seine Partei mit der Opposition gleichauf. Da erschreckt ihn die Existenz der HDP mit ihrem Wählerpotential von mindestens zehn Prozent enorm.

Aus diesem Grund wurde das im letzten Jahr eingeleitete Verbotsverfahren gegen die HDP, die den oppositionellen Block von außen unterstützt, plötzlich beschleunigt. Die Justiz macht Anstalten, die Konten der Partei zu sperren, weil sie angeblich Verbindungen zur Terrororganisation PKK unterhalte. Das Ziel ist klar: die finanziellen Ressourcen der HDP trockenlegen, um ihr Wahlkampagnen unmöglich zu machen. Auch polizeiliche Repressalien gegen die Partei ebben nicht ab. Selbst bei friedlichen Aktionen geht die Polizei mit Gewalt gegen HDP-Politiker vor. In der vergangenen Woche wurde der Ko-Vorsitzende der HDP Istanbul vor laufenden Kameras von einem Polizisten geohrfeigt. Vor ein paar Monaten brach die Polizei einem HDP-Abgeordneten ein Bein. Vor einer Woche wurde einem HDP-Mitglied nach Aufhebung seiner Immunität der Abgeordnetenstatus aberkannt. Einem anderen Abgeordneten wurde der Pass entzogen. All dies deutet darauf hin, dass die HDP verboten werden könnte.

Vor den Wahlen begnügt sich das Palastregime aber nicht mit Eingriffen in die Wirtschaft und gegen die Opposition gerichteten politischen Schritten. Der Kampf gegen Tatsachen geht weiter. In meinem Brief vom 1. Dezember hatte ich berichtet, dass qualifizierte Arbeitskräfte abwandern, allein 2021 haben mehr als dreißigtausend Softwareentwickler die Türkei verlassen. Die Quelle für diese Information war der Verband der Softwareunternehmer. Der Palast wollte nicht, dass diese Tatsache publik wird, und ließ per Gerichtsbeschluss den Zugang zu Meldungen über dieses Thema sperren. Wahrscheinlich ist die F.A.Z. das einzige Presseorgan, das dieses Faktum weiterhin legal verbreitet. Ein noch tragischerer Beschluss: Unsere Justiz, die vor wenigen Monaten mehr als zwanzig kurdische Journalisten verhaften ließ, verbot auch den Untersuchungsbericht darüber. Zudem haben wir das erste Opfer des Desinformationsgesetzes, der neuen Handschelle, die den Medien vor den Wahlen angelegt wird. Ein Lokalreporter wurde wegen angeblicher Fake News verhaftet. Und eine Regisseurin, die eine Doku über öffentlichen Aufruhr drehte, wurde inhaftiert, weil in ihrem Video im Hintergrund ein Polizeiwagen zu sehen war.

In meinem letzten Brief in diesem Jahr hätte ich Ihnen lieber keine derart unerfreulichen Nachrichten übermittelt. Doch das ist die Türkei. In diesen Zeiten vermag ich Ihnen in meinem Neujahrsschreiben nur ein bitteres Lächeln auf die Lippen zu legen. Eine der beiden letzten Nachrichten, die ich Ihnen mitteilen will, betrifft die Strafe gegen einen oppositionsnahen Fernsehsender. Die Produzentin einer auf Halk TV ausgestrahlten Sendung erhielt ein Sendeverbot für drei Tage, weil sie „mimisch Terrorismus gepriesen“ habe. Sie haben sich nicht verlesen, die Dame hat mit ihrer Mimik den Terrorismus gepriesen! Und die letzte Nachricht betrifft den Methamphetamin-Wahn. Der Chef des Rauschgiftdezernats erklärte, diese synthetische Droge sei in der Türkei aufgrund der Serie „Breaking Bad“ populär geworden, einer der beliebtesten Serien der Fernsehgeschichte. Nein, nein, noch wird Bryan Cranston, der in der Serie die Rolle des Chemielehrers und Meth-Produzenten Walter White spielt, nicht per Dringlichkeitsvermerk über Interpol gesucht. Hoffentlich sind die Wahlen bald überstanden.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe