Mehrsprachigkeit und Migration Wenn Sprachenvielfalt ein Vorteil ist

 Wer viele Sprachen spricht, hat Vorteile in der globalisierten Welt. Doch migrationsbedingte Mehrsprachigkeit gilt in Deutschland noch häufig als Risikofaktor. Warum Sprachenvielfalt eine wertvolle Ressource ist.

Von Ortrun Huber, BR

Samir Bouajaja unterrichtet an einer Kölner Gesamtschule. Der 37-Jährige spricht fünf Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Marokkanisch. Deutsch spricht der Lehrer am liebsten, weil es so präzise sei: "Die deutsche Sprache erlaubt es, Dinge unheimlich genau auszudrücken", sagt er.

An Bouajajas Schule gibt es viele junge Menschen mit internationaler Familiengeschichte. "Wir wollen das wertschätzen", sagt der Lehrer. "Die Kinder sollen merken, dass die Sprache, die sie mitbringen, positiv ist."

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Mehrsprachigkeit ist globaler Standard

Mehr als 7000 Sprachen werden weltweit gesprochen. Doch in Deutschland ist es überwiegend üblich, Schule und Alltag in nur einer, der deutschen Sprache, zu bestreiten. Global betrachtet, befinden wir uns mit dieser Einsprachigkeit in der Minderheit. So beherrschen allein die Einwohner von Afrika und Asien, die gut 75 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, in der Regel mindestens zwei Sprachen - meist eine Regional- und eine Amtssprache. Mehrsprachigkeit ist, weltweit gesehen, Standard.

Auch in Deutschland weist der Trend in Richtung Mehrsprachigkeit. Immer mehr Kinder und Jugendliche wachsen mit mehr als einer Sprache auf. Zwar sprechen laut IQB-Bildungstrend 2021 gut 60 Prozent der Grundschulkinder zu Hause ausschließlich Deutsch. Doch lag der Anteil 2016 noch bei fast 73 Prozent, 2011 bei knapp 84 Prozent. Von den 22,6 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund spricht jeder Zweite neben Deutsch noch mindestens eine weitere Sprache. Türkisch, Russisch, Arabisch, Polnisch und Englisch sind die am häufigsten genutzten Herkunftssprachen. 

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Vorteile der Mehrsprachigkeit

Grundsätzlich bietet Mehrsprachigkeit, da sind sich Sprachwissenschaftler einig, eine ganze Reihe von Vorteilen. Studien belegen, dass Erwachsene, die früh mit zwei Sprachen Kontakt hatten, eine größere Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit besitzen und weitere Sprachen leichter lernen.

Zudem gilt es mittlerweile als gesichert, dass es die kognitiven Fähigkeiten von Kindern, also beispielsweise Aufmerksamkeit oder Gedächtnisleistung, nicht überfordert, wenn sie mehrere Sprachen gleichzeitig lernen. Studien zeigen, dass bereits Babys in der Lage sind, Sprachen zu unterscheiden. Wie Intonation und Melodie einer Sprache klingen, hört ein Fötus bereits im Bauch der Mutter. So imitieren Neugeborene nach der Geburt zunächst das Gehörte beim Schreien und entwickeln in den ersten Tagen ein "Schreimelodie", die sich je nach Muttersprache deutlich unterscheidet.

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Früher Sprachenerwerb - ein Kinderspiel

Kinder können mühelos mehrere Sprachen gleichzeitig lernen und dabei die einzelnen Sprachen sehr früh auseinanderhalten. Es sei ein Irrglaube, dass es Kinder überfordere, mit mehreren Sprachen aufzuwachsen, erklärt der Psycholinguist und Mehrsprachigkeitsforscher Harald Clahsen von der Universität Potsdam. "Untersuchungen zeigen, dass es ein kritisches Zeitfenster gibt, etwa bis zum Alter von sechs bis sieben Jahren, in dem Kinder eine zweite Sprache als Muttersprache lernen können." Dieses Zeitfenster böte die Chance, mit der bilingualen Erziehung im Kindergarten zu beginnen.

"Das menschliche Gehirn ist physiologisch darauf ausgelegt, mehrere Sprachen zu erlernen bzw. zu speichern", bestätigen die Sprachwissenschaftlerinnen Anja Binanzer und Sarah Jessen in einer Studie über Mehrsprachigkeit in der Schule. Zugleich liege es auf der Hand, dass Mehrsprachigkeit in einer zunehmend globalisierten Welt die Möglichkeiten der Lebensgestaltung wesentlich vergrößere. "Mehrsprachigkeit sollte demnach auch ein zentrales Bildungsziel in Deutschland sein", fordern die Sprachwissenschaftlerinnen.

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Mehrsprachigkeit garantiert keinen Bildungserfolg

Bildungserfolg durch Mehrsprachigkeit? So einfach ist es leider nicht. Obwohl es mittlerweile als gesichert gilt, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund besser im Deutschen abschneiden, wenn sie ihre Herkunftssprache schriftlich beherrschen, ist das deutsche Bildungssystem noch nicht ausreichend auf Mehrsprachigkeit ausgerichtet. Zwar bieten die meisten Bundesländer herkunftssprachlichen Unterricht an - allerdings nur für Grundschüler und die Anzahl der angebotenen Herkunftssprachen und die Qualität der Kurse variieren stark.  

Dass Kinder mit Migrationshintergrund im Schnitt geringere Leistungen erreichen als Kinder ohne Migrationshintergrund hängt jedoch nicht allein vom Sprachhintergrund ab. Noch immer spielt eine große Rolle, wie gut Eltern ihre Kinder in der Schule unterstützen können, sei es aufgrund ihres sozioökonomischen Hintergrunds oder ihres Bildungsstandes.

Sprachstanderhebungen zeigen, dass Kinder, deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss haben, öfter Sprachförderung benötigen als Kinder, deren Eltern einen höheren Bildungsabschluss haben. Zugleich besuchen Kinder in Deutschland seltener ein Gymnasium, wenn beide Eltern keine oder wenige Deutschkenntnisse haben.

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Sprache prägt Identität

Am Ende muss sich in den Schulen vor Ort zeigen, wie Mehrsprachigkeit in Erfolg umgemünzt werden kann. "Mehrsprachigkeit ist ein absoluter Gewinn, ist eine Ressource", sagt Samir Bouajaja, der Gesamtschullehrer aus Köln. Man habe damit einen Rucksack auf, in dem sich viel zusätzliches Werkzeug befinde. "Mit diesem zusätzlichen Werkzeug kann ich mehr Dinge machen, als wenn ich es nicht habe." Die Mehrsprachigkeit der Kinder sei schließlich auch ein Gewinn im Zusammenhang mit ihrer Identität. Um zu wissen, wer sie sind, spiele Sprache eine große Rolle.

Mehr zu dem Thema können Sie in der Doku "ARD Wissen: Mein Körper. Meine Worte" sehen. Sie läuft am Montag, 22.5., um 22:50 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtet das Erste in der Doku "ARD-Wissen: Mein Körper. Meine Worte" am 22. Mai 2023 um 22:50 Uhr.

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