Abschied von der Willkommenskultur

 

Jimmie Åkesson ist an seinem Ziel. „Das ist ein kleiner, aber historischer Schritt“, twitterte der schwedische Politiker vor wenigen Tagen. Der 41-Jährige steht seit über einem Jahrzehnt an der Spitze der rechtsnationalen Schwedendemokraten, dem schwedischen Pendant zur AfD. Bisher war Åkessons Partei ausgegrenzt. Was sich nun ereignete, ist, als würde sich die AfD mit der CDU und der FDP zusammenschließen, um gemeinsam ein strikteres Asylrecht zu fordern.

Schweden hat sich spätestens in der Flüchtlingskrise von seiner liberalen Einwanderungspolitik verabschiedet. © Bereitgestellt von WELT Schweden hat sich spätestens in der Flüchtlingskrise von seiner liberalen Einwanderungspolitik verabschiedet.

Ob historisch oder nicht – es ist ein Schritt auf einem Weg, den Schweden spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 geht. Und von dem man schon jetzt sagen kann, dass er das Land gesellschaftspolitisch in eine neue Richtung führt.

Das Ende der „humanitären Supermacht“

Schweden hatte über Jahrzehnte die liberalste Einwanderungspolitik Europas, kein europäischer Staat nahm in seiner Geschichte pro Kopf mehr Asylbewerber auf und erarbeitete sich das – von Kritikern spöttisch, von Fans bewundernd benutzte – Attribut „humanitäre Supermacht“. Es ist eine Ironie der Geschichte: Als Deutschland die Willkommenskultur entdeckte – läutete dies in Schweden das Ende dieser Tradition ein. Die große Zahl der Migranten, die über Deutschland nach Skandinavien zog, überforderte Schweden und beschleunigte dort das Ende der offenen Einwanderungspolitik.

Schweden hat sich spätestens in der Flüchtlingskrise von seiner liberalen Einwanderungspolitik verabschiedet. © Bereitgestellt von WELT Schweden hat sich spätestens in der Flüchtlingskrise von seiner liberalen Einwanderungspolitik verabschiedet.

Schwedens liberale Migrationspolitik wurzelt in den Wirtschaftswunderjahren. Seit den 1960er-Jahren warb das skandinavische Land Arbeitskräfte aus anderen europäischen Ländern an. Anders als Deutschland, wo die „Gastarbeiter“ das Land eines Tages wieder verlassen sollten, wollte Schweden die Menschen langfristig halten, integrieren und schließlich zu Staatsbürgern machen. Als der Aufschwung endete, kamen weiter Menschen, nun auch aus vielen anderen Weltregionen. 1975 bekamen Zuwanderer und Staatsbürger gleiche Rechte und vollen Zugang zum Sozialsystem. Sie erhielten explizit die Wahl, sich an die schwedische Kultur anzupassen oder weiter die heimische zu praktizieren – sofern diese nicht zentralen schwedischen Werten widersprach. Ab 1984 galt ein unbefristetes Bleiberecht für Flüchtlinge.

Quelle: Infografik WELT © Infografik WELT Quelle: Infografik WELT

In den 90er-Jahren strömten die Flüchtlinge der Balkankriege nach Schweden und Deutschland. Beide Länder boten einen hohen Lebensstandard und viele Jobs – und die Chance, sich dauerhaft niederzulassen. Aber während Deutschland im Jahr 1993 sein Asylrecht verschärfte, blieb Schweden so liberal wie je. Fortan kamen deutlich mehr Asylbewerber nach Schweden als nach Deutschland. Noch 2010 waren es pro Kopf etwa dreimal so viele. Dann kam das Jahr 2015.

Deutschland war mit der größten Zahl an Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert – die Zahl der Migranten pro Kopf lag in Schweden sogar noch höher. Deutschland geriet an seine Grenzen, Schweden wurde es zu viel – man zog die Notbremse. Während in Deutschland zahlreiche Menschen einreisten, von denen unbekannt war, woher sie kamen, wies das skandinavische Land Ankömmlinge ohne Ausweisdokumente an den Grenzen ab.

Parallelwelten in den Vorstädten

Die Regierung verschärfte erstmals das Asylrecht – und schaffte das unbefristete Bleiberecht nach drei Jahrzehnten ab. Temporär, für fünf Jahre. Aber diese fünf Jahre sind nun um. Die Zahl der Asylbewerber ist seit dem Flüchtlingsdeal mit der Türkei auch in Schweden gesunken, aber eine Rückkehr zum einstigen liberalen Einwanderungsrecht ist politisch nicht mehr durchsetzbar. Zu sehr beherrschten die Integrationsprobleme zuletzt immer wieder die Schlagzeilen im Land.

Die Vorstädte der Metropolen Stockholm, Göteborg oder Malmö haben sich über die Jahrzehnte in Parallelwelten verwandelt. Kriminalität und Arbeitslosigkeit sind bei Migranten und ihren Nachkommen höher als im Rest der Bevölkerung. Es gibt Schießereien zwischen Drogenbanden, sogar Bombenanschläge wurden verübt. Im vergangenen August starb ein zwölfjähriges Mädchen in der Region Stockholm versehentlich durch eine Kugel. Sie war nicht die einzige Unbeteiligte, die Opfer der Gewalt wurde. In dem skandinavischen Land, das so stolz war auf Toleranz und Harmonie, wurden 2019 umgerechnet auf die Bevölkerung viermal so viele Menschen durch Schusswaffen getötet wie in Deutschland.

Zu solchen Unruhen wie hier im August 2020 in Malmö kam es in den vergangenen Jahren regelmäßig in Schwedens migrantisch geprägten Vorstädten Quelle: picture alliance/ASSOCIATED PRES © picture alliance/ASSOCIATED PRES Zu solchen Unruhen wie hier im August 2020 in Malmö kam es in den vergangenen Jahren regelmäßig in Schwedens migrantisch geprägten Vorstädten Quelle: picture alliance/ASSOCIATED PRES

Wie hoch der Druck auf die sozialdemokratische Regierung ist, zeigte sich im vergangenen Jahr. Als andere EU-Länder, allen voran Deutschland, Flüchtlinge aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria in Griechenland aufnahmen, weigerte sich Schweden. Das Land stellte sich an die Seite von Polen oder Ungarn, nicht an die von Deutschland.

Ein historischer Moment ereignete sich vor wenigen Monaten im schwedischen Parlament, dem Reichstag. Schwedendemokraten-Chef Åkesson fragte da den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven, ob dieser keinen Zusammenhang zwischen Migration und wachsender Kriminalität sehe. „Ist die Migration so stark, dass die Integration nicht mehr gelingt, riskieren wir auch, mehr Probleme dieser Art zu bekommen. Das ist glasklar“, antwortete der Sozialdemokrat. Für Schweden eine Revolution. Die Sozialdemokraten hatten einen Zusammenhang immer verneint.

So wollen oder können nun auch die regierenden Sozialdemokraten nicht mehr zurück zum Asylrecht vor 2015. Mit einem neuen Gesetz wollen sie die Verschärfungen verstetigen, die seit damals nur temporär gegolten hatten. Ein entsprechender Gesetzesentwurf wurde vor wenigen Wochen ins Parlament eingebracht und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ab Juli in Kraft treten. Vom unbefristeten Bleiberecht ist in Schweden kaum etwas übrig. Flüchtlinge sollen nur noch maximal drei Jahre im Land bleiben dürfen, exakt so lange wie in Deutschland. Mit subsidiärem Schutz sind es nur 13 Monate, das ist nur noch ein Monat länger als in Deutschland.

Ohne Sprachkenntnisse kein Aufenthalt

Nach Ablauf der jeweiligen Frist haben nur jene Menschen die Chance auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung, die für sich und ihre Familie sorgen können, die schwedische Sprache ausreichend beherrschen und landeskundliche Kenntnisse unter Beweis stellen können. In Deutschland werden solche Kulturkenntnisse erst beim Staatsbürgerschaftstest verlangt.

Schwedens Asylpolitik ist immer noch etwas liberaler als die deutsche, die sich nach dem Willkommenskultur-Intermezzo der Jahre 2015 und 2016 auch wieder deutlich verschärft hat. Aber für die „humanitäre Supermacht“ im Norden ist es nicht weniger als eine neue Ära. Die Sozialdemokraten, einst mit einem Abonnement auf eine komfortable Mehrheit ausgestattet, haben keine Wahl mehr. Die rechtsnationalen Schwedendemokraten machen Druck, sie haben bei der Wahl im kommenden Jahr eine klare Chance auf die Macht. Die Partei, die erst 2010 erstmals den Sprung ins Parlament geschafft hatte, lag bei der bisher letzten Wahl im Jahr 2018 schon bei 17,5 Prozent. Seither bewegt sie sich konstant zwischen 20 und 25 Prozent – im Jahr 2019 war sie eine Zeit lang in den Umfragen sogar stärkste Kraft im Parlament.

Die Schwedendemokraten haben sich neben Sozialdemokraten und Konservativen als eine der drei großen Parteien des Landes etabliert. Von den anderen Parteien wurden die Schwedendemokraten systematisch gemieden, bis heute. Bis vergangenen Sonntag. Da verkündeten Schwedendemokraten, Konservative, Christdemokraten und Liberale ihre Zusammenarbeit. In einem eigenen Gesetzentwurf sind zahlreiche Vorhaben der Sozialdemokraten noch schärfer gefasst – und Ausnahmen gestrichen. Um für die Pläne eine Mehrheit zu bekommen, fehlen ihnen aber zwei Sitze. Aber egal, welcher der beiden Vorschläge verabschiedet wird: Schweden verabschiedet sich in der Migrationspolitik von seiner Tradition.

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